Oliver Twist. Charles Dickens
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„Ich habe so eben das Mass zu den beiden gestern Abend gestorbenen Frauenzimmern genommen, Mr. Bumble,“ rief er ihm entgegen, und bot ihm zugleich seine Dose, ein artiges kleines Modell eines Patentsarges.
„Sie werden noch ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry,“ bemerkte Bumble.
„Möcht’s wünschen; aber die Directoren zahlen nur gar zu geringe Preise.“
„Ihre Särge sind auch gar zu klein, Mr. Sowerberry.“
„Grössere thun auch nicht noth, Mr. Bumble, bei der neuen Speiseordnung.“
Bumble missfiel die Wendung, welche das Gespräch genommen; er suchte es daher auf einen anderen Gegenstand zu lenken, spielte mit einem seiner grossen Rockknöpfe mit dem Kirchspielsiegelemblem — dem barmherzigen Samariter — und begann von Oliver Twist. Mr. Sowerberry bedurfte eines Knaben zu Handreichungen, wurde sofort zu den Directoren geführt, und das Geschäft war bald abgemacht. Oliver sollte noch am selbigen Abend „auf Probe“ zu ihm gehen, was so viel sagen will, als dass der Meister, dem ein Kirchspielknabe als Lehrling übergeben wird, denselben auf eine Anzahl Lehrjahre haben soll, um mit ihm zu thun, was ihm beliebt, wenn er nach kurzer Probezeit ersieht, dass ihm der Knabe genug arbeitet, ohne zu esslustig und also zu kostbar zu sein. Dem kleinen Oliver wurde gesagt, wenn er nicht gutwillig ginge, oder sich im Armenhause wieder blicken liesse, so würde man ihn nach gebührender Züchtigung zur See schicken, wo er unfehlbar ertrinken müsse. Er zeigte wenig Rührung, und wurde nunmehr für gänzlich verhärtet erklärt. Er hatte freilich in Wahrheit nicht zu wenig, sondern eher zu viel Gefühl, war aber durch die erfahrene Behandlung betäubt und für den Augenblick vollkommen abgestumpft. Auf dem Wege zu Mr. Sowerberry ermahnte ihn Bumble in seinem gewöhnlichen Tone. Oliver traten die Thränen in die Augen.
„Was weinst du, Schlingel? Hab’ ich’s nicht immer gesagt, dass du die schlechteste, undankbarste Creatur von der Welt bist? Was hast du? Sprich!“
„Ich bin so verlassen, Sir — so ganz verlassen! Jedermann ist so schlimm gegen mich. Es ist mir, als wenn ich hier blutete und mich todtbluten müsste;“ — und er presste die Hand auf das Herz, und blickte mit nassen Augen seinem Führer in das Gesicht.
Bumble hustete, sagte endlich: „Sei nur ein guter Junge,“ und ging schweigend weiter.
Mr. Sowerberry rief seine wenig einnehmende Gattin. „Das ist der Knabe, von welchem ich dir sagte,“ nahm er schüchtern das Wort.
„Mein Himmel, wie klein er ist!“ rief Mrs. Sowerberry aus.
„Er ist allerdings klein,“ sagte Bumble, Oliver sehr unwillig anblickend, als ob es des Knaben Schuld gewesen wäre, dass er nicht grösser war; „er wird aber grösser werden, Mrs. Sowerberry.“
„O ja, auf unsere Kosten,“ entgegnete sie verdriesslich. „Ich sehe keine Ersparniss mit Kirchspielkindern; sie kosten allezeit mehr, als sie werth sind. Die Männer glauben aber immer, Alles am besten zu wissen.“
Sie stiess Oliver eine Treppe hinunter in eine finstere, elende Küche, und befahl einer schlumpigen Dienstmagd, ihm zu geben, was für den nicht zu Hause gekommenen Trip zurückgestellt wäre.
O dass doch so Mancher, dessen Blut von Eis und dessen Herz von Stein ist, und der dennoch eine Stimme sich anmasst, eine Stimme hat, wo es der Beurtheilung der Lage, dem Wohl oder Wehe der Armen gilt, den Knaben hätte verschlingen sehen können, was der Haushund verschmäht! Wie sehr wäre so vielen Menschenfreunden dieselbe und keine andere Diät zu wünschen!
Frau Sowerberry hatte dem Knaben mit stummem Entsetzen zugeschaut; er hörte auf zu essen, als er nichts mehr fand.
„Bist du endlich fertig?“ sagte sie. „Nun komm, dein Bett ist unter dem Ladentische. Du wirst dich doch nicht grauen, zwischen Särgen zu schlafen? Aber wenn du auch nicht wolltest, du bekommst keine andere Schlafstelle.“
Oliver folgte schüchtern und geduldig seiner neuen Herrin.
Fünftes Kapitel.
Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.
Sobald Oliver im Laden des Leichenbestatters allein gelassen war, setzte er seine Lampe auf eine Bank, und Furcht und Grauen durchschauerte ihn. Mitten im Gemach stand ein neuer, fast fertiger Sarg; die schon zugeschnittenen, an die Wände umher gelehnten Bretter erschienen ihm beim matten Lampenlichte wie Geister. Auf dem Boden lagen grosse Nägel, Holzspähne, Stücke schwarzen Tuchs und Sargembleme, und an der Wand über dem Ladentische hing das grauenhafte Bild eines Leichenzugs. Die Luft war drückend heiss; sie däuchte Oliver wie Grabesluft, die Oeffnung zu seiner Ruhestätte unter dem Ladentische wie ein gähnendes Grab.
Er fühlte sich allein und unbefreundet in der Welt, und obwol er keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm das Herz dennoch schwer; und als er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er, dass es sein Sarg sein und dass er darin hinaus auf den Kirchhof getragen werden möchte, wo das hohe stille Gras über ihm wüchse und im Winde säuselte, und das Läuten der alten traurigen Thurmglocke ihm schöne Träume zuführte in seinem süssen Schlummer.
Er wurde am folgenden Morgen durch ein ungestümes Pochen an der Thür aus seinem unruhigen Schlafe geweckt, und eilte, dieselbe zu öffnen. Tobend und drohend trat ein weit grösserer Knabe, als Oliver selbst war — ein Armenknabe — herein, und befragte ihn barsch und ungestüm, ob er der neue Lehrling, wie alt er wäre, u. s. f. Oliver fragte ihn schüchtern und in aller Unschuld, ob er eines Sarges bedürfe.
„Es wird nicht lange währen, bis du selbst einen brauchst,“ war die zornige Antwort, „wenn du Scherz treibst mit Leuten, die dir zu befehlen haben. Weisst du nicht, wer ich bin? Noah Claypole, und du bist mir untergeben, Musjö Ohnevater. Oeffne die Fensterläden, Faulpelz.“
Oliver that, wie ihm geheissen war, und gleich darauf erschien Mr. und Mrs. Sowerberry. Oliver und sein neuer Tyrann wurden in die Küche geschickt, um ihr Frühstück zu erhalten. Charlotte, die Köchin, bedachte Noah gut und Oliver desto schlechter, der obenein von Jenem sehr unsanft in einen dunkeln Winkel gestossen und vielfach gehänselt wurde.
Noah war ein Freischüler, aber doch keine Waise aus dem Armenhause. Sein Stammbaun war ihm sehr wohl bekannt; seine Eltern wohnten in der Nachbarschaft. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein pensionirter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich „Lederhose“ und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto grösseren Uebermuth einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. — Welch’ ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren.
Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. „Der Knabe sieht wirklich gut aus,“ bemerkte er.
„Kein Wunder,“ entgegnete sie, „denn er isst genug.“
„Er hat ein äusserst melancholisches Gesicht, und sieht immer so trübselig aus, dass er wirklich einen vortrefflichen Stummen 1 abgeben würde.“
Seine Gattin