Oliver Twist. Charles Dickens
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Dies sah einer Lüge so ähnlich, dass ihn der alte Herr etwas strenge ansah. Allein es war unmöglich, seine Aussage zu bezweifeln, denn aus allen seinen Zügen leuchtete die klarste Wahrheit hervor. Brownlow meinte, dass ein Missverständniss obwalten müsse, sein Verdacht schwand gänzlich, und doch vermochte er die Blicke von Oliver nicht abzuwenden, denn abermals drang sich die Aehnlichkeit des Knaben mit bekannten Zügen ihm auf. Oliver hob flehend die Augen zu ihm empor.
„Sie sind mir doch nicht böse, Sir?“
„Nein, nein; — aber — barmherziger Himmel! was ist das? Frau Bedwin — sehen Sie, sehen Sie!“
Und während er hastig die Worte sprach, wies er nach Dem Bilde über Oliver’s Lehnstuhle, und dann auf Oliver selbst hin. Es konnte keine grössere Aehnlichkeit geben; der Knabe war der Dame auf dem Bilde wie aus den Augen geschnitten.
Oliver gewahrte die Ursache des plötzlichen Ausrufs seines Wohlthäters nicht; der Schrecken war ihm zu viel gewesen; er war ohnmächtig geworden.
Dreizehntes Kapitel.
In welchem der Leser eine neue Bekanntschaft macht.
Sobald der Baldoberer und Master Bates ihren Zweck erreicht hatten, alle Aufmerksamkeit von sich ab und auf Oliver zu lenken, schlüpften sie in eine Seitengasse, um eiligst nach Hause zurückzukehren. Sobald sie wieder zu Athem gekommen waren, fing Master Bates laut zu lachen an, und rief sich und dem Freunde mit grenzenlosem Vergnügen die unendlich spasshafte Scene in das Gedächtniss zurück, wie der geängstete Oliver gelaufen und überall angerannt war, und wie er (Charley Bates) und der Baldoberer ihn eifrigst mit gehetzt und das Tuch in der Tasche gehabt hatten. Sein Freund unterbrach jedoch bald seinen Redefluss, und warf das Bedenken auf, was Fagin sagen würde?
„Was soll er sagen?“ meinte Charley.
„Hm!“ sagte Jack, pfiff und schnitt sehr bedeutsame Gesichter.
Charley folgte ihm nachdenklich, bald darauf langten sie zu Hause an.
„Wo habt ihr den Oliver, ihr Halunken?“ schnaubte der Jude, als sie eintraten.
Sie schwiegen; er fasste den Baldoberer bei der Kehle und drohete, ihn zu erwürgen, wenn er nicht augenblickliche Auskunft gäbe. Charley erhob ein jammervolles Geheul, sein Freund riss sich los, ergriff ein Messer, und war im Begriff, es dem Juden in die Seite zu stossen, als die Thüre geöffnet wurde, und ein Vierter, gefolgt von einem knurrenden, zerbissenen Hunde, hereintrat.
„Was gibt’s hier, zu allen Teufeln! Spitzbube von Juden, was soll das bedeuten?“
Die grobe, polterude Stimme gehörte einem vierschrötigen Manne von etwa fünfundvierzig Jahren, mit einem breiten Gesicht und düster grollendem Blicke an. Sein Bart war seit mehreren Tagen nicht abgenommen, und sein eines Auge von einem Schlage angeschwollen, den er erst vor Kurzem erhalten haben musste. Arm- und Beinschellen dachte man sich bei der ganzen Erscheinung leicht hinzu.
Er setzte sich gemächlich. „Was sind das hier für Sachen?“ fuhr er fort. „Warum misshandelst du die Jungen, du alter unersättlicher Filz und Pascher (Diebeshehler)? Ich wundere mich nur, dass sie dir die Kehle nicht abschneiden, was ich unfehlbar thun würde, wenn ich in ihrer Haut steckte. Ich hätt’s längst gethan, wenn ich dein Lehrling wäre. Freilich — verkaufen hätt’ ich deinen Haut- und Knochencadaver nicht können; du bist zu nichts gut, denn als ein merkwürdiges Stück von Hässlichkeit in Spiritus aufbewahrt zu werden, und sie blasen so grosse Gläser nicht.“
„Pst, pst! Mr. Sikes,“ fiel der zitternde Jude ein; „nicht so laut, nicht so laut!“
„Ich will dich bemistern; du hast immer Teufeleien im Sinn, wenn du damit kömmst. Du weisst meinen Namen, und ich werd’ ihm keine Unehre machen, wenn die Zeit kömmt.“
„Schon gut, schon gut; also Bill Sikes,“ sagte der Jude kriechend demüthig. „Ihr scheint übler Laune zu sein, Bill.“
Bill überhäufte ihn zur Erwiderung abermals mit Vorwürfen und Schimpfwörtern, und deutete dabei auf so verdächtige Dinge hin, dass ihn Fagin angstvoll und mit einem Seitenblicke nach den beiden Knaben fragte, ob er wahnsinnig geworden wäre? Bill machte pantomimisch einen Knoten unter seinem linken Ohre, wies durch eine Kopfbewegung über seine rechte Schulter, welche Symbolik der Jude vollkommen zu verstehen schien, forderte ein Glas Branntwein und fügte die Erinnerung hinzu, es aber nicht zu vergiften. Er sagte dies scherzend; hätte er jedoch den satanischen Blick sehen können, mit welchem der Jude sich umwendete, um nach dem Schranke zu gehen, so würde ihm die Warnung keineswegs unnöthig gedäucht haben.
Nachdem er einige Gläser hinuntergestürzt, liess er sich herab, die jungen Herren anzureden, was zu einem Gespräch führte, in dessen Laufe ihm Oliver’s Gefangennehmung umständlich und mit solchen Ausschmückungen erzählt wurde, wie sie der Baldoberer für nöthig erachtete.
„Ich fürchte, dass er wird etwas lehmern, wodurch wir kommen in Ungelegenheit,“ bemerkte der Jude.
„Sehr wahrscheinlich,“ sagte Bill mit einem boshaften Greinen. „Du bist verloren, Fagin.“
Der Jude that, als ob er die Unterbrechung nicht beachtet hätte, behielt Sikes scharf im Auge, und fuhr fort: „Ich fürchte nur, wenn mir das Handwerk gelegt würde, möcht’s auch noch Anderen mehr gelegt werden, und dass die Geschichte ein schlechteres Ende nimmt für Euch, als für mich, mein Lieber.“
Sikes fuhr zusammen und blickte den Juden wüthend an, der jedoch die Achseln zuckend gerade vor sich hinstarrte. Nach einem langen Stillschweigen sagte er mit leiserer Stimme: „Es muss erforscht werden, was sich auf der Polizei zugetragen hat.“
Fagin nickte beifällig.
„Hat er nichts ausgeschwatzt und ist ein Haftsbefehl gegen ihn ausgestellt, so ist nichts zu fürchten, bis er wieder loskommt; dann aber muss er in Obacht genommen und wieder eingefangen werden.“
Der Jude nickte abermals. Der Rath war offenbar gut, nur war die Ausführung schwierig, da alle vier Gentlemen einen unüberwindlichen Widerwillen dagegen hegten, einem Polizeiamte nahe zu kommen. Sie blickten einander verlegen an, als sie beiden jungen Damen eintraten, deren Bekanntschaft Oliver vor einigen Tagen gemacht hatte. Der Fall wurde ihnen vorgetragen, und Fagin sprach seine Zuversicht aus, dass Betsy den Auftrag übernehmen werde. Die junge Dame war zu wohlerzogen und zu feinfühlend, um einem Mitgliede der Gesellschaft geradezu oder vielleicht gar mit Schärfe zu widersprechen, oder eine Bitte abzuschlagen. Sie sagte daher keineswegs entschieden nein, sondern begnügte sich mit der Versicherung, dass sie sich hängen lassen wollte, wenn sie’s thäte.
Der Jude wendete sich an ihre fast prachtvoll gekleidete Freundin: „Gute Nancy, was sagst du?“
„Dass ich mich schönstens hüten werde; also geht Euch nur weiter keine Mühe, Fagin.“
„Wie soll ich das nehmen?“ fiel Sikes grollend ein.
„Just wie ich’s gesagt habe, Bill,“ entgegnete die Dame sehr ruhig.
„Du bist aber eben die rechte Person dazu; es kennt dich hier herum Niemand.“
„Und es thut auch gar nicht noth, dass mich wer kennen lernt, was ganz gegen meinen Wunsch wäre.“
„Sie geht, Fagin,“ sagte Sikes.
„Nein,