Lange Schatten. Louise Penny
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Als sie zu guter Letzt keinen einzigen Bissen mehr hätten hinunterbringen können, kam der Käsewagen, beladen mit verschiedenen von den Mönchen in der nahe gelegenen Benediktinerabtei Saint-Benoit-du-Lac hergestellten Käsesorten. Die Brüder führten ein Leben in Kontemplation, sie hielten Vieh, gingen ihrer Arbeit in der Käserei nach und übten sich in gregorianischen Gesängen von so großer Schönheit, dass sie weltberühmt damit geworden waren, was bei Männern, die sich bewusst von der Welt zurückgezogen hatten, nicht einer gewissen Ironie entbehrte.
Während Armand Gamache seinen fromage bleu genoss, blickte er über den See in einen nur langsam verblassenden Himmel, so als würde ein so schöner Tag nur unwillig zu einem Ende kommen. In der Ferne war ein einzelnes Licht zu sehen. Ein Cottage. Es wirkte keineswegs wie ein Eindringling in der unberührten Natur, im Gegenteil, es hatte etwas Anheimelndes. Gamache stellte sich vor, dass eine Familie am Ufer saß und nach Sternschnuppen Ausschau hielt oder in der schlichten Stube beim Licht von Propangaslampen Rommé, Scrabble oder Cribbage spielte. Sie hatten natürlich Strom dort, aber ihm gefiel die Vorstellung, dass Menschen, die tief in den Wäldern von Québec lebten, nur Gaslampen benutzten.
»Ich habe heute mit Roslyn in Paris gesprochen.« Reine-Marie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, der dabei leise knarrte.
»Wie geht es ihr?« Gamache musterte das Gesicht seiner Frau, obwohl er wusste, dass, wenn es ein Problem gäbe, sie ihm dies schon längst mitgeteilt hätte.
»So gut wie nie. Noch zwei Monate. Es wird also im September zur Welt kommen. Ihre Mutter fliegt nach Paris, um sich um Florence zu kümmern, wenn das Kleine da ist, und Roslyn hat gefragt, ob wir nicht auch kommen wollen.«
Er lächelte. Sie hatten natürlich schon darüber geredet. Nichts könnte sie davon abhalten, ihre Enkelin Florence, ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu besuchen. Und das neue Baby. Jedes Mal, wenn Gamache daran dachte, überkam ihn ein schier unfassbares Glücksgefühl. Allein die Vorstellung, dass sein Kind selbst ein Kind hatte, schien ihm geradezu unglaublich.
»Sie haben schon Namen ausgesucht«, sagte sie beiläufig. Aber Gamache kannte seine Frau, ihr Gesicht, ihre Hände, ihren Körper, ihre Stimme. Und die Stimme hatte plötzlich einen etwas anderen Ton angenommen.
»Erzähl.« Er legte die Gabel mit dem Käse auf den Teller und faltete seine großen, ausdrucksstarken Hände auf der weißen Damasttischdecke.
Reine-Marie sah ihren Ehemann an. Er wirkte immer so ruhig und gelassen, was aber nur noch zu dem Eindruck von Stärke beitrug.
»Wenn es ein Mädchen wird, soll sie Geneviève Marie Gamache heißen.«
Gamache wiederholte den Namen. Geneviève Marie Gamache. »Das klingt schön.«
War das der Name, den sie auf Geburtstags- und Weihnachtskarten schreiben würden? Geneviève Marie Gamache. Würde die Kleine auf kurzen Beinchen die Treppe zu ihrer Wohnung in Outremont hochrennen und laut »Grandpapa, Grandpapa!« rufen? Und würde er »Geneviève« rufen und sie mit seinen starken Armen auffangen und sie sicher und warm an seine Brust drücken, was den Menschen vorbehalten war, die er liebte? Würde er sie und ihre Schwester Florence eines Tages auf Spaziergänge durch den Parc Mont Royal mitnehmen und ihnen seine Lieblingsgedichte beibringen?
Wo lebt ein Mensch so seelenschwach,
Dass er noch niemals bei sich sprach:
»Das ist mein Land, mein Heimatland!«
So wie es sein eigener Vater getan hatte.
Geneviève.
»Und wenn es ein Junge wird«, fuhr Reine-Marie fort, »wollen sie ihn Honoré nennen.«
Schweigen. Schließlich sagte Gamache: »Aha«, und senkte den Blick.
»Das ist ein wunderschöner Name, Armand, und eine noch schönere Geste.«
Gamache nickte, sagte aber immer noch kein Wort. Er hatte sich schon manchmal gefragt, was er empfände, wenn dieser Fall eintreten sollte. Aus irgendeinem Grund hatte er damit gerechnet, vielleicht weil er seinen Sohn kannte. Sie waren sich so ähnlich. Groß und kräftig gebaut, sanftmütig. Und hatte er damals nicht selbst mit sich gerungen, ob er Daniel Honoré nennen sollte? Bis zum Tag der Taufe hatte er Honoré Daniel heißen sollen.
Aber dann hatte er es seinem Sohn doch nicht antun wollen. War das Leben nicht auch ohne einen Namen wie Honoré Gamache schon schwer genug?
»Er bittet dich, ihn anzurufen.«
Gamache sah auf seine Uhr. Fast zehn. »Ich melde mich morgen früh bei ihm.«
»Und was willst du ihm sagen?«
Gamache drückte die Hände seiner Frau und ließ sie wieder los, dann lächelte er sie an. »Wie wäre es mit Espresso und einem Glas Likör im Salon?«
Sie sah ihn fragend an. »Möchtest du dir nicht kurz die Beine vertreten? Ich werde mich um den Espresso kümmern.«
»Danke, meine Liebe.«
»Ich warte auf dich.«
»Wo lebt ein Mensch so seelenschwach«, murmelte Armand Gamache, während er langsam die Dunkelheit durchmaß. Der süße Duft des nächtlichen Gartens begleitete ihn und die Sterne, den Mond und das Licht von der anderen Seite des Sees. Von der Familie im Wald. Seiner Phantasiefamilie. Vater, Mutter und glückliche, gedeihende Kinder.
Kein Leid, kein Verlust, kein scharfes Klopfen abends an der Tür.
In diesem Moment ging das Licht am anderen Ufer aus, und alles war in völlige Dunkelheit getaucht. Die Familie hatte sich friedlich schlafen gelegt.
Honoré Gamache. War das wirklich so falsch? War es falsch, was er empfand? Was sollte er Daniel morgen früh sagen?
Er starrte ins Leere und dachte kurz nach, bis er bemerkte, dass sein Blick auf etwas Leuchtendem ruhte. Vor dem Wald. Er sah sich um, ob jemand in der Nähe war, ein weiterer Zeuge. Aber Terrasse und Garten lagen verwaist da.
Neugierig ging Gamache über das weiche Gras darauf zu. Er warf einen Blick zurück auf die fröhlich funkelnden Lichter des Manoir und die Leute, die sich durch die Zimmer bewegten. Dann drehte er sich wieder um.
Der Wald lag dunkel da. Aber nicht still. Tiere liefen darin herum, Zweige knackten, gelegentlich war ein leises Krachen zu hören, wenn etwas von den Bäumen zu Boden fiel. Gamache hatte keine Angst vor der Dunkelheit, aber wie die meisten phantasiebegabten Kanadier fürchtete er sich ein kleines bisschen vor dem Wald.
Aber das weiß leuchtende Ding dort rief nach ihm, und er fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen, so wie Odysseus von den Sirenen.
Es stand direkt am Waldrand. Er ging darauf zu, überrascht, wie groß es war, ein gleichmäßiger Quader ähnlich einem riesigen Zuckerwürfel. Er reichte ihm bis zur Hüfte, und Gamache streckte die Hand aus, nur um sie sofort wieder zurückzuziehen. Die Oberfläche war kalt, fast klamm. Er streckte erneut die Hand aus, entschlossener dieses Mal, und ließ sie einen Moment auf dem Ding ruhen. Er lächelte.
Es war aus Marmor. Er hatte Angst vor einem Marmorblock gehabt, dachte er und musste über sich lachen. Wie peinlich. Gamache trat einen Schritt zurück und starrte