In Fesseln. John Galsworthy
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу In Fesseln - John Galsworthy страница 12
Er würde sie so oft sehen, wie er wollte! Warum nicht nach London fahren und diesen Testamentsnachtrag bei seinem Anwalt machen, anstatt deswegen einen Brief zu schreiben?
Vielleicht würde sie ja gerne in die Oper gehen! Aber mit dem Zug, er wollte nicht, dass dieser fette Beacon hinter seinem Rücken grinste. Bedienstete waren solche Dummköpfe, und sehr wahrscheinlich wussten sie alle über die Geschichte mit Irene und dem jungen Bosinney Bescheid – Bedienstete wussten über alles Bescheid, und über den Rest stellten sie Vermutungen an. Er schrieb ihr an jenem Morgen:
»Meine liebe Irene, ich muss morgen nach London. Solltest du Lust auf einen kleinen Opernbesuch haben, dann geh doch gemütlich mit mir essen …«
Doch wo? Es war Jahrzehnte her, dass er in London auswärts zu Abend gegessen hatte, abgesehen von seinem Klub oder bei anderen privat. Ah! Dieses neumodische Lokal in der Nähe von Covent Garden …
»Schicke mir deine Antwort morgen früh zum Piedmont-Hotel, damit ich weiß, ob ich dich dort um sieben Uhr erwarten kann.
Liebe Grüße
Jolyon Forsyte«
Sie würde verstehen, dass er ihr nur eine kleine Freude machen wollte. Denn der Gedanke, sie könnte merken, dass er dieses Verlangen verspürte, sie zu sehen, bereitete ihm instinktiv Unbehagen. Es schickte sich nicht, dass ein so alter Mann sich solche Umstände machte, um Schönheit zu sehen, besonders nicht die Schönheit einer Frau.
Die Fahrt am nächsten Tag, obgleich kurz, und der Besuch bei seinem Anwalt ermüdeten ihn. Es war auch noch heiß, und so legte er sich, nachdem er sich für das Abendessen umgezogen hatte, auf das Sofa in seinem Schlafzimmer, um sich ein wenig auszuruhen. Er musste eine Art Ohnmachtsanfall gehabt haben, denn als er wieder zu sich kam, fühlte er sich sehr merkwürdig.
Mit Mühe stand er auf und läutete. Was, es war ja schon nach sieben! Und er war noch hier, und sie würde warten. Doch plötzlich kam das Schwindelgefühl wieder und er musste sich wieder auf das Sofa fallen lassen. Er hörte, wie das Zimmermädchen sagte: »Haben Sie geläutet, Sir?«
»Ja, kommen Sie her.« Er konnte sie nicht deutlich erkennen, da er einen Schleier vor den Augen hatte. »Ich fühle mich nicht gut, ich brauche etwas Riechsalz.«
»Ja, Sir.« Sie klang erschrocken.
Der alte Jolyon versuchte, sich zusammenzunehmen.
»Warten Sie. Überbringen Sie eine Nachricht an meine Nichte – eine Dame, die in der Halle wartet, eine Dame in Grau. Sagen Sie ihr, Mr Forsyte fühle sich nicht gut – die Hitze. Es tue ihm sehr leid. Wenn er nicht gleich herunterkomme, solle sie mit dem Abendessen nicht auf ihn warten.«
Als sie fort war, dachte er schwach: ›Warum habe ich nur gesagt, eine Dame in Grau – sie könnte doch auch jede andere Farbe tragen. Riechsalz!‹ Er verlor nicht wieder das Bewusstsein, dennoch wusste er nicht, wie es kam, dass Irene plötzlich neben ihm stand und ihm Riechsalz unter die Nase hielt und ihm ein Kissen unter den Kopf steckte. Er hörte sie besorgt sagen: »Mein lieber Onkel Jolyon, was hast du denn?«, spürte vage den sanften Druck ihrer Lippen auf seiner Hand. Dann atmete er das Riechsalz tief ein, spürte plötzlich, wie es ihm Kraft gab, und nieste.
»Ach! Nichts«, sagte er. »Wie bist du hierhergekommen? Geh nach unten und iss etwas – die Karten liegen auf der Frisierkommode. Mir geht’s gleich wieder gut.«
Er spürte ihre kalte Hand auf seiner Stirn, roch Veilchen und fühlte sich hin und her gerissen zwischen einer Art Wohlgefühl und dem Willen, wieder in Ordnung zu kommen.
»Na, so was! Du trägst ja Grau!«, sagte er. »Hilf mir auf.« Als er wieder auf den Beinen war, schüttelte er sich kurz.
»Wie konnte ich nur einfach so in Ohnmacht fallen!« Und sehr langsam ging er zum Spiegel. Blass wie eine Leiche! Er hörte, wie sie hinter ihm murmelte: »Du solltest nicht nach unten kommen, Onkel. Du musst dich ausruhen.«
»Unsinn! Ein Glas Champagner und schon bin ich wieder putzmunter. Ich kann nicht zulassen, dass dir die Oper entgeht.«
Doch der Weg den Korridor entlang war mühsam. Was hatten die doch für Teppiche in diesen neumodischen Hotels, so dick, dass man bei jedem Schritt ins Stolpern kam! Im Aufzug fiel ihm auf, wie besorgt sie aussah, und mit dem leichten Anflug eines Zwinkerns sagte er: »Ich bin ja ein schöner Gastgeber.«
Als der Aufzug anhielt, musste er sich am Sitz festkrallen, damit dieser nicht unter ihm wegglitt. Doch nach einer Suppe und einem Glas Champagner fühlte er sich viel besser und fing an, Gefallen zu finden an dieser Schwäche, die sie so fürsorglich ihm gegenüber machte.
»Ich hätte dich gerne als Tochter gehabt«, sagte er plötzlich. Und als er das Lächeln in ihren Augen sah, fuhr er fort: »In deinem Alter solltest du dich nicht so sehr von der Vergangenheit einnehmen lassen, das kommt noch zur Genüge, wenn du so alt bist wie ich. Ein schönes Kleid trägst du da – der Stil gefällt mir.«
»Ich habe es selbst genäht.«
Ah! Eine Frau, die sich selbst ein schönes Kleid nähen konnte, hatte ihr Interesse am Leben nicht verloren.«
»Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist«, sagte er. »Und trink das leer, ich will etwas Farbe auf deinen Wangen sehen. Wir dürfen unser Leben nicht vergeuden, das sollte man nicht. Heute Abend singt eine neue Marguerite, hoffentlich ist sie nicht fett. Und Mephisto – ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen als einen fetten Kerl, der den Teufel spielt.«
Doch sie gingen dann gar nicht in die Oper, denn als er nach dem Essen aufstand, wurde ihm wieder schwindlig, und sie bestand darauf, dass er sich ausruhte und früh zu Bett ging. Nachdem er den Kutscher bezahlt hatte, damit er sie nach Chelsea brachte, und sie sich an der Hoteltür verabschiedet hatten, setzte er sich wieder für einen Augenblick, um in der Erinnerung an ihre Worte zu schwelgen: »Du bist so lieb zu mir, Onkel Jolyon!« Na, wer würde das nicht sein? Er wäre gern noch einen Tag in der Stadt geblieben, um mit ihr in den Zoo zu gehen, aber zwei Tage hintereinander mit ihm würden sie zu Tode langweilen. Nein, er musste sich bis nächsten Sonntag gedulden, sie hatte versprochen, ihn dann zu besuchen. Sie würden die Unterrichtsstunden für Holly vereinbaren, wenn auch nur für einen Monat. Immerhin etwas. Dieser kleinen Mamsell Beauce würde das nicht gefallen, aber sie würde sich damit abfinden müssen. Und den alten Zylinder an die Brust gedrückt, machte er sich auf den Weg zum Aufzug.
Am nächsten Morgen fuhr er nach Waterloo und kämpfte dabei gegen den Wunsch an, zu sagen: ›Fahren Sie mich nach Chelsea!‹ Doch sein Sinn für das richtige Maß war zu ausgeprägt. Außerdem war er noch immer schwach auf den Beinen, und er wollte nicht riskieren, dass ihm so etwas wie gestern Abend noch einmal passierte, wenn er nicht zu Hause war. Und Holly wartete ja auch noch auf ihn und auf das, was er für sie mitgebracht hatte. Nicht, dass die Liebe seiner Kleinen in irgendeiner Form berechnend wäre – sie war ein Ausbund an Zuneigung.
Dann fragte er sich mit dem recht bitteren Zynismus alter Menschen für einen Augenblick, ob Irene sich nicht nur aus berechnender Liebe mit ihm abgab. Nein, auch sie war nicht von der Art. Wenn überhaupt, dann hatte sie eher zu wenig Ahnung davon, wie sie sich einen Vorteil verschaffen konnte, keinen Besitzinstinkt, das arme Ding! Außerdem hatte er keinen Ton verlauten lassen über diesen Testamentsnachtrag, und das würde er auch nicht – es war genug, dass jeder Tag seine eigene Freude hatte.
In der Viktoria-Kutsche, die am Bahnhof auf ihn wartete, saß Holly, die den Hund Balthasar zurückhielt,