In Fesseln. John Galsworthy

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In Fesseln - John Galsworthy Forsyte

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tut, wenn er von einem schöpferischen Geist beseelt ist. Doch sehr oft dachte er: ›Ich muss das Rauchen lassen ‒ und den Kaffee auch. Ich muss aufhören, in die Stadt zu fahren.‹ Doch er tat es nicht. Es war niemand da, der gewissermaßen eine Respektsperson war und auf ihn achtete, und das war ein unbezahlbarer Segen.

      Die Hausangestellten wunderten sich vielleicht, aber die waren ja naturgemäß stumm. Mamsell Beauce war zu sehr mit ihrer Verdauung beschäftigt und zu ›wohlerzogään‹, um persönliche Anspielungen zu machen.

      Holly hatte noch keinen Blick für Veränderungen des Aussehens der Person, die ihr Spielzeug und ihr Gott war. So war es alleine an Irene, ihn zu bitten, doch mehr zu essen, sich während der heißen Stunden des Tages auszuruhen, etwas zur Stärkung zu nehmen und so weiter. Doch sie sagte ihm nicht, dass sie der Grund für seine Abnahme war – denn man kann nicht den Schaden sehen, den man selbst gerade anrichtet. Ein Mann von fünfundachtzig Jahren hat keine Leidenschaften, doch die Schönheit, die die Leidenschaft entfacht, wirkt in der alten Weise weiter, bis der Tod die Augen schließt, die sich danach sehnen, sie zu sehen.

      Am ersten Tag der zweiten Juliwoche erhielt er von seinem Sohn einen Brief aus Paris, in dem er ihm mitteilte, dass sie alle am Freitag zurück sein würden. Das hatte immer mit Gewissheit so festgestanden, doch mit dem rührenden Mangel an Voraussicht, der den Alten gegeben ist, damit sie bis zum Ende durchhalten, hatte er es sich nie ganz eingestanden. Jetzt tat er es, und es musste etwas unternommen werden. Er konnte sich ein Leben ohne dieses neugewonnene Interesse nicht mehr vorstellen, doch manchmal gibt es eben auch Dinge, die man sich nicht vorstellen kann, wie Forsytes zu ihrem Leidwesen immer wieder feststellen müssen. Er saß in seinem alten Ledersessel, faltete den Brief und knabberte mit den Lippen am Ende einer nicht angezündeten Zigarre.

      Ab morgen würde er seine Dienstagsausflüge in die Stadt aufgeben müssen. Er könnte vielleicht noch einmal die Woche nach London, unter dem Vorwand eines Treffens mit seinem Bevollmächtigten. Aber selbst das würde von seiner Gesundheit abhängen, denn jetzt würden sie anfangen, viel Aufheben von ihm zu machen. Der Musikunterricht! Der Unterricht musste weiter stattfinden! Sie musste ihre Skrupel vergessen und June musste ihre Gefühle hintanstellen.

      Das hatte sie ja schon einmal gemacht, am Tag nach der Nachricht von Bosinneys Tod. Wenn sie es damals geschafft hatte, würde sie es sicher auch jetzt wieder tun können. Vier Jahre war es jetzt her, dass sie so verletzt wurde – es war unchristlich, an alten Wunden festzuhalten. June hatte einen starken Willen, aber seiner war stärker, denn seine Zeit lief ab. Irene war sanftmütig, sicher würde sie das für ihn tun, würde eher ihren natürlichen Widerwillen unterdrücken als ihm Kummer bereiten! Der Unterricht musste weitergehen, denn dann war er sicher. Und während er endlich seine Zigarre anzündete, begann er, nach einem Weg zu suchen, wie er es den anderen beibringen und diese seltsame Nähe erklären konnte, wie er die nackte Wahrheit verschleiern und verpacken konnte – dass er es nicht ertragen könnte, wenn ihm der Anblick ihrer Schönheit genommen werden würde.

      Ah! Holly! Holly mochte sie, Holly gefiel der Klavierunterricht. Sie würde seine Rettung sein – seine liebe Kleine! Und dieser glückliche Gedanke beruhigte ihn, und er fragte sich, warum er so besorgt und voller Angst gewesen war. Er durfte sich keine Sorgen machen, davon wurde er immer so seltsam schwach und fühlte sich, als ob er nur noch halb in seinem Körper wäre.

      An jenem Abend kam nach dem Essen wieder dieser Schwindel, aber er wurde nicht ohnmächtig. Er wollte nicht läuten, weil er wusste, dass es wieder so einen Aufstand geben würde und seine Fahrt in die Stadt morgen dann umso auffälliger wäre. Wenn man alt wurde, verschwor sich die ganze Welt, einen in seiner Freiheit einzuschränken, und wozu? – Nur, damit er ein wenig länger atmete. Zu dem Preis wollte er das nicht.

      Der Hund Balthasar war der Einzige, der sah, wie er sich in seiner Einsamkeit von dem Schwächeanfall erholte. Ängstlich beobachtete er, wie sein Herrchen zur Anrichte ging und einen Schluck Brandy trank, anstatt ihm einen Keks zu geben. Als der alte Jolyon sich endlich in der Lage fühlte, die Treppen zu schaffen, ging er nach oben ins Bett. Und obwohl er am nächsten Morgen immer noch zittrig war, stützte und stärkte ihn der Gedanke an den Abend.

      Es war immer eine solche Freude, ihr ein gutes Essen zu servieren – er hatte den Verdacht, dass sie zu wenig aß, wenn sie allein war – und in der Oper zu sehen, wie ihre Augen leuchteten und strahlten und ihre Lippen sich zu einem unbewussten Lächeln formten. Sie hatte nicht viel Vergnügen, und heute war das letzte Mal, dass er ihr so etwas Gutes tun konnte. Doch als er seine Tasche packte, ertappte er sich dabei, wie er sich wünschte, er hätte nicht noch die Mühe des Umziehens für das Abendessen vor sich und die Strapaze, ihr von Junes Rückkehr zu erzählen.

      Die Oper, in die sie an jenem Abend gingen, war Carmen, und er wählte den letzten Entreakt, um ihr die Nachricht zu überbringen. Er hatte es instinktiv bis zum letzten Moment hinausgeschoben.

      Sie nahm es ruhig auf, merkwürdig. Um genau zu sein, wusste er nicht, wie sie es aufgenommen hatte, bis die eigenwillige Musik wieder erklang und man still sein musste. Die Maske hatte sich wieder über ihr Gesicht gelegt, jene Maske, hinter der so vieles vor sich ging, was er nicht sah. Sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, ohne Zweifel! Er wollte sie nicht drängen, denn morgen Nachmittag würde sie wegen des Klavierunterrichts kommen, und dann würde er sehen, ob sie sich mit dem Gedanken anfreunden konnte. In der Droschke sprach er nur über die Carmen. Er habe bessere gesehen in den alten Zeiten, aber diese sei keineswegs schlecht gewesen. Als er ihre Hand ergriff, um gute Nacht zu sagen, beugte sie sich schnell nach vorne und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

      »Mach’s gut, lieber Onkel Jolyon, du bist so lieb zu mir gewesen.«

      »Bis morgen also«, sagte er. »Gute Nacht, schlaf gut.« Sie erwiderte sanft: »Schlaf gut.« Und durch das Fenster der sich schon entfernenden Droschke sah er, wie sie ihr Gesicht zu ihm umdrehte und ihre Hand mit einer scheinbar verweilenden Geste herausstreckte.

      Langsam ging er auf sein Zimmer. Sie gaben ihm jedes Mal ein anderes, und er konnte sich einfach nicht an diese ›piekfeinen‹ Zimmer mit den neuen Möbeln und den grün-grauen, mit pinken Rosen übersäten Teppichen gewöhnen. Er konnte nicht schlafen und diese verdammte Habanera ging ihm nicht aus dem Kopf.

      Für die genauen Worte der Arie hatte sein Französisch nie gereicht, aber den Sinn verstand er, wenn sie denn einen Sinn hatte, eine Zigeunerweise – wild und unerklärlich. Nun, es gab im Leben etwas, das alle Sorgfalt und Pläne zunichtemachte – etwas, das Männer und Frauen nach seiner Pfeife tanzen ließ. Und er lag da und starrte mit seinen tiefliegenden Augen in die Dunkelheit, in der das Unerklärliche die Macht innehatte. Man glaubte, sein Leben fest im Griff zu haben, doch es entglitt einem, packte einen im Genick, drängte hierhin und dorthin und quetschte dann mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit das Leben aus einem heraus!

      Bestimmt machte es das sogar bei den Sternen so, rieb ihre Nasen aneinander und schleuderte sie auseinander – es hörte niemals auf, seine Streiche zu spielen. Fünf Millionen Menschen lebten in dieser großen Donnerbüchse von Stadt und alle waren sie diesen Mächten des Lebens ausgeliefert, wie viele kleine getrocknete Erbsen, die auf einem Brett umherhopsten, wenn man mit der Faust draufschlug. Ach, ja! Er selbst würde nicht mehr allzu lange hopsen – eine ordentliche Mütze Schlaf würde ihm guttun!

      Wie heiß es hier oben war! Wie laut! Seine Stirn brannte. Sie hatte sie genau dort geküsst, wo sich seine Sorgen immer breitmachten, genau dort – als ob sie von dieser Stelle gewusst hätte und ihm alle Sorgen habe wegküssen wollen. Doch stattdessen hinterließen ihre Lippen einen Fleck des schmerzlichen Unbehagens. Ihre Stimme hatte nie zuvor so geklungen, sie hatte noch nie diese verweilende Geste gemacht oder sich nach ihm umgedreht, wenn sie in der Kutsche davonfuhr.

      Er stand auf und zog die Vorhänge zur Seite, sein Zimmer zeigte auf den Fluss hinaus. Es war kaum Luft zu spüren, doch der Anblick dieses breiten

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