Kursbuch 204. Группа авторов
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Im Sommer konnte das Start-up neben Atlantic Food Labs und Bitburger Ventures weitere Geldgeber von sich überzeugen, aus der Schweiz, aus Singapur, aus Kalifornien. Die Idee hat globales Potenzial: Die Bioreaktoren könnten überall stehen. Und die Vorteile sind selbsterklärend: Kein Landverbrauch für die Aufzucht von Tieren, aber auch kein Landverbrauch für den Anbau von Pflanzen – weder für Tier noch Mensch. »Wir machen Protein quasi aus dem Nichts«, so Rizk. Wobei seine Vision keine Welt ganz ohne Rinder, Schweine und Hühner ist. Er selbst isst ab und zu Fleisch. »Zweimal die Woche ist das auch okay, nur an den anderen fünf Tagen sollte es etwas anderes sein.« Um Menschen zu überzeugen, müsse aber vor allem der Geschmack stimmen, er entscheide letztlich darüber, ob Kunden das Produkt kaufen. »Nachhaltigkeit kommt immer erst an zweiter Stelle.«
Mit den kürzlich eingesammelten 8,7 Millionen Euro sollen jetzt erst einmal neue Leute eingestellt werden, auch um die Produktion hochzufahren. Bislang gibt es nur Prototypen für Würstchen, Bällchen, Pattys. Wenn alles klappt, können 2021 die ersten Produkte schon mal an ausgewählte Restaurants ausgeliefert werden.2
Gunther Hirschfelder ist Kulturanthropologe und Agrarexperte. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Essen und Trends. Das Engagement von jungen Unternehmen nennt er mitunter »symbolische Markierung«: Ich nehme wahr, dass es ein Riesenproblem gibt, und das hier ist meine Antwort darauf. Hirschfelder ist weit davon entfernt, zu werten. »Es ist die Aufgabe von Start-ups, den Markt zu sondieren und mithilfe von Kapital Ideen auszuprobieren – auch wenn dann nur ein Bruchteil das Zeug dazu hat, unsere Ernährung wirklich nachhaltig zu beeinflussen.« Vor allem die technologischen Lösungen haben nach Hirschfelder die Chance, eine rasante Entwicklung hinzulegen – »es ist der Trend schlechthin, die Folie, auf der alles andere passieren wird«. Vermutlich nur in einem größeren Maßstab.
Seit vergangenem Jahr sitzt Hirschfelder als Berater im Innovationsraum NewFoodSystem, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung sowie dem Max Rubner-Institut (MRI) ins Leben gerufen hat. Die Akteure sind sich einig: Um die Versorgung mit Lebensmitteln auch in Zukunft sicherstellen zu können, müsse jetzt in die Grundlagenforschung investiert und die Landwirtschaft von Boden, Wetter und Klima entkoppelt werden. Stillgelegte Salzbergwerke sind denkbar, so Hirschfelder, in denen nicht nur Getreide, Gemüse und Obst rund ums Jahr gedeihen, sondern auch Fische und alternative Proteinquellen gezüchtet werden. Das Ganze zusammengedacht als effizienter Stoffkreislauf, ohne Abfall, CO2-neutral und sicher.
Auch wenn die Ideen nicht taufrisch sind, die Kombination aus Fisch und Pflanzenzucht geisterte unter dem Namen »Tomatenfisch« schon vor sechs Jahren durch die Presse, erntet Hirschfelder auf solche Visionen Stirnrunzeln. Das werde sich aber ändern. »Die technikkritische 68er-Generation, die die Innovationsfeindlichkeit quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat, tritt langsam ab und räumt die Posten für eine technikaffinere Generation.« Corona gebe dieser Entwicklung einen zusätzlichen Schub, »weil wir sehen, nur Hochtechnologie – nichts anderes ist Impfen – wird uns vor einer Katastrophe und einem Leben mit tiefen Einschnitten bewahren.«
Richard Kägi ist 62. Bei dieser Vorstellung wird ihm tatsächlich flau. Seit 30 Jahren reist der Schweizer als Foodscout um die Welt und besucht Bauern, Köche, Winzer, Fischer. Nicht zuletzt, um innovative Produkte für das Schweizer Warenhaus Globus zu finden. Die tollsten, so Kägi, »sind aber für den großen Handel gar nicht geeignet«. Weil zu rar, zu teuer, zu empfindlich. In Japan lagen neben seinem Sushi mal schimmernde Perlen auf dem Teller. »Wenn sie in deinem Mund zerplatzen, schmeckst du das ganze Meer.« Die Algen finden sich nur an den Küsten Okinawas. Einmal aus dem Wasser gefischt, sind sie nach 24 Stunden kaputt. »Sicher, es muss sich etwas tun«, sagt Kägi, »unsere Landwirtschaft, unsere Lebensmittelproduktion, unsere Art zu essen verursacht zu viele Probleme.« Grundsätzlich sei er auch für alles offen, »wenn denn die Rechnung wirklich aufgeht«. Doch bei riesigen Hallen muss er an all die Tomaten, Gurken und Erdbeeren denken, die in der Schweiz schon heute zum großen Teil hors-sol in beheizten Gewächshäusern oder hermetisch abgeschlossenen Räumen unter künstlichem Licht kultiviert werden. Die Pflanzen stehen auf Hydrokulturen, Kokosfasern oder Schaumstoff statt auf Erde, »das Zeug hat für mich keinen Geschmack und keine Lebendigkeit, es wirkt wie tot« 3.
Auf seinem Blog hat sich Kägi vor zwei Jahren über Foodtrends ziemlich ausgelassen. Der Titel: »Fuck the trends!« So scharf würde er es heute nicht mehr formulieren. Nur: Was ist neu an Ethnofood? »Wird in den entsprechenden Ländern schon immer gekocht und schwappt dann als grottenlangweiliger Abklatsch zu uns. Kantinentauglich.« Oder an vegetarisch? »Vor allem in Indien, aber auch in anderen Ländern und Regionen, ernähren sich Hunderte Millionen Menschen schon immer ohne Fleisch.« Oder an lokal, regional? »War bis vor 150 Jahren so normal wie heute peruanischer Spargel im Weihnachtsmenü. Gewürz war das Einzige aus fernen Ländern, aber auch nur getrocknet und teuer wie Kronjuwelen.« So sinnvoll der Einkauf regionaler Produkte auch sein mag, für Kägi macht er nur Sinn, »wenn die Produkte auf Wochenmärkten direkt beim Produzenten eingekauft werden. Im Handel versickert ein großer Teil der Frische in Logistik und aufwendiger Verpackung.« Zudem verstünden Kunden nicht, dass regional und naturnah produziert immer auch strikt saisonal bedeutet – »das wollen die allermeisten dann doch nicht«.
Überhaupt, auch wenn sich viele Schweizer für Foodtrends und Foodinnovationen interessieren: »80 Prozent kaufen dieselben Lebensmittel ein wie vor 30 Jahren«, sagt Kägi. »Unter die zehn beliebtesten Gerichte konnte sich neben Schnipo, Cordon bleu, Burger und Spaghetti Bolo als einzige Exotin gerade mal das grüne Thai Curry schleichen.« In Deutschland sieht es nicht viel anders aus. Menschen sind Gewohnheitsesser und als Kunden markentreu. In Krisenzeiten sowieso. Während des ersten Lockdowns feierten die Dosenravioli von Maggi ein rauschendes Comeback, das Werk in Singen musste Sonderschichten fahren.
Auch Hirschfelder sieht die Diskrepanz. Während ein Teil der Bevölkerung durchaus eine Antwort auf Billigfleisch finden möchte, indem er zum Sojaschnitzel greift oder sich beim Metzger seines Vertrauens nur noch einmal pro Woche ein Edelstück aus dem Dry-Aged-Reifeschrank holt, ist in den allermeisten Kantinen die Currywurst partout nicht von der Tageskarte zu streichen.4 »Diese Widersprüche müssen wir in einer Demokratie aushalten – und sind höchstens politisch aufzulösen, indem Umweltfolgekosten nicht länger sozialisiert werden, sondern eingepreist.« 5 Bloß: Schon vor Corona hat sich keiner ernsthaft da rangetraut. »Jetzt, unter zunehmend ökonomischem Druck, wird die Nachfrage nach preiswertem und energiedichtem Essen vermutlich zunehmen«, schätzt Hirschfelder. Also Fertigpizza, Pommes, Bratwurst, Schnitzel. Auch wenn mit Tönnies die Fleischdiskussion zumindest kurz ins öffentliche Bewusstsein schwappte und verstärkt auch Obst und Gemüse im Einkaufswagen landeten, gerne in Bioqualität: 6 »Fleisch hat in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor eine hohe Wertigkeit und wird als Statussymbol gesehen«, sagt Hirschfelder. »Solange ich es mir leisten kann, ist noch nicht alles verloren. Wir vergessen oft, dass die Zeit, in der zu Mittag nur der Vater ein Stück Fleisch zu essen bekam, noch nicht so lange zurückliegt.« Diese Erfahrung stecke in vielen von uns noch drin und beeinflusse bis heute unbewusst unser Kauf- und Essverhalten. »Das schleicht sich nicht so schnell aus.« 7
Sowieso gebe es neben den Foodtrends, die es in Bücher, Magazine oder ins Fernsehen schaffen, noch ganz andere Entwicklungen. 27 Prozent aller Menschen, die hierzulande leben, haben ausländische Wurzeln, Ende des Jahrzehnts werden es voraussichtlich 30 Prozent sein. Gerade die jungen Leute, die sich von ihrem Elternhaus emanzipieren, so Hirschfelder, kaufen überwiegend westliche Markenprodukte: Coca-Cola, Red Bull, Hamburger von McDonald’s. Zudem haben Menschen mit afrikanischem oder arabischem Hintergrund zumeist keine Vorbehalte gegenüber Zucker oder Tiefkühlhähnchen von deutschen Discountern, aus