Kursbuch 204. Группа авторов
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Gibt der Schmorbraten aktuell keinen Anlass (mehr?) zur Diskussion in puncto Namensgebung, ist es heute der Diskurs um die Benennung von Fleischersatzprodukten, der unter anderem aufzeigt, dass gerade Fleisch als Wohlstandsindikator gelten kann. Bei der Analyse menschlichen Fleischkonsums zeigen sich dabei verschiedene Merkmale, die Rückschlüsse auf die jeweilige Gesellschaft zulassen. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) aktuell beispielsweise, die Fettzufuhr, vor allem gesättigter Fettsäuren, wie sie in Fleischprodukten vorkommen, zu reduzieren, da die meisten Männer und Frauen in Deutschland die empfohlenen Tagesmengen überschreiten.6 Blickt man in der Geschichte der Menschheit zurück, lässt sich an dieser Empfehlung erkennen, an welch luxuriösem Punkt wir in unserer kulinarischen Historie angekommen sind. Denn im deutschsprachigen Raum war Fett bis in die Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs ein wertvolles Gut und somit auch ein wichtiger Anteil am Fleisch. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass der physiologische Brennwert von Fett höher liegt als der vieler anderer Lebensmittel. Ergo ist bei der Aufnahme einer gleichen Menge von Fett und beispielsweise Kartoffeln die Energieaufnahme bei Ersterem höher. Fett als Teil der Ernährung trägt somit zu einer effizienteren Energiezufuhr bei.
Ruft man sich die eben erwähnten Jäger und Sammler ins Gedächtnis, ergibt es Sinn, dass die Zunahme von Fleisch in der Ernährung in der Evolution fast schon revolutionär war, da sich daraus in gewisser Weise eine Aufwandskaskade ergibt. Wer Fleisch isst, nimmt ein gewisses Maß an Energie zu sich. Bestenfalls muss für die Beschaffung des Fleisches dabei weniger Energie aufgebracht werden als für die gleiche Menge an Energie in Form von beispielsweise Kohlenhydraten. Somit ist fettes Fleisch lange Zeit ein hohes und erstrebenswertes Produkt. Das ändert sich erst, als es beginnt, im Überfluss vorhanden zu sein. Seit der sogenannten Fresswelle in den 1950er-Jahren wird immer mehr Wert auf eine fettreduzierte Ernährung gelegt – das Ergebnis eines Zusammenspiels industrieller Prozesse, die zu einer nahezu ganztägigen Verfügbarkeit sämtlicher Lebensmittel führten, und veränderter Arbeitsbedingungen sowie Alltagsgestaltungen: Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und den Computer bedient, muss in der Regel weniger Energie zu sich nehmen als eine Person gleichen Grundbedarfs, die einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgeht. Gleichzeitig fällt es im Schlaraffenland der Supermärkte immer schwerer, den Fokus auf gesunde Ernährung zu halten. Aus dieser Entwicklung ergibt sich auch die logische Konsequenz, dass fettreduzierte Ernährung nun das neue Distinktionsmittel ist, oftmals gepaart mit weiteren Entwicklungen zum Thema healthy food und einem sportiven Lifestyle.
Du bist, was du isst
Doch zurück zum Fleisch und zu einer der ersten Fragen, die meist gestellt werden, wenn die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zur Sprache kommt: »Wie viel Fleisch wird in Deutschland im Schnitt konsumiert?« Gemeint ist meist die Verzehrmenge pro deutschem Kopf und Jahr. Die Reaktionen auf die Antwort sind oftmals ein erstaunter Blick und Sätze wie: »Oh, das ist ganz schön viel.« Und rein sachlich gesehen sind 59,5 Kilogramm im Jahr 2019 tatsächlich nicht wenig, zumal der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch im selben Jahr bei 87,8 Kilogramm lag 7 – doch woran wird das gemessen?
Lassen wir die Forscherbrille auf und gucken in der Geschichte zurück: Im Vergleich zum Vorjahr sank der Fleischverzehr pro Person im Jahre 2019 mit 59,5 Kilogramm um 2,5 Prozent. Und schaut man rund 500 Jahre zurück, zeigt sich, dass die derzeitigen Werte im Vergleich rückläufig sind: Für das ausgehende Mittelalter gehen einige Forscher tatsächlich von bis zu 100 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr aus. Ob diese Zahl tatsächlich so haltbar ist, bleibt fraglich. Starke Schwankungen des Fleischkonsums nach Einkommen, Wohnort und -region sind zumindest anzunehmen. Schaut man dagegen auf besser verifizierbare Zahlen, etwa für das beginnende 19. Jahrhundert mit etwa 15 Kilogramm pro Kopf im Jahr, wird deutlich, dass der Fleischkonsum insgesamt in der Geschichte starken Schwankungen unterliegt. Klimatische Bedingungen, gesellschaftliche Prozesse sowie politische Entscheidungen tragen und trugen hierzu maßgeblich bei. Dabei avancierte Chicago im 19. Jahrhundert mit seinen Union Stock Yards zur weltweit führenden Stadt in der Fleischindustrie. Eine Entwicklung, die die Auswirkungen der Industrialisierung auf Fleischkonsum und -produktion verdeutlicht. Eine fast schon fordistisch anmutende Schlachtung am Fließband, neue Kühlmöglichkeiten und ausgebaute Transportwege ließen Chicago dabei zu einem Vorbild der Schlachtindustrie heranwachsen. Upton Sinclair gibt in seinem 1905 erschienenen Roman The Jungle ausführlich Einblick in die Schlachtungsbedingungen vor Ort.
Schließlich fanden die industrielle Schlachtung und damit zusammenhängende, nun industriell geprägte Wertschöpfungsketten den Weg auch in die Städte Europas. Geschlachtet wurde immer weniger von Metzgern in Hausschlachtung oder im eigenen Betrieb. Es entstanden große Schlachthöfe, meist verkehrsgünstig an der Bahn und am Rand der Städte gelegen. Kulturhistorisch zeigt sich hier, wie die Schlachtung, und somit der Tod, immer stärker aus den Städten selbst und somit auch aus dem Alltag der Menschen verschwand. Mit dieser Verdrängung ging eine gewisse Tabuisierung des Themas einher, deren Auswirkungen nicht nur bis heute auf den Tellern landen, sondern zu denen sich, gerade aktuell, auch entsprechende Gegenbewegungen bilden. Ethical butchers, ganzheitliche Fleischverwertung from nose to tail oder die Rückbesinnung auf regionale und saisonale Küche seien an dieser Stelle nur als einige Formen genannt.
Die bereits angemerkten Schwankungen des Fleischkonsums zeigen sich jedoch auch und trotz Chicagoer Produktionsvorbild im 20. Jahrhundert in Europa: Führte die fortschreitende Industrialisierung zunächst zu einer Zunahme fleischlicher Nahrung, ließen Kriegs- und Notzeiten diese Entwicklung zwischenzeitlich wieder einbrechen. Dem Wunsch nach dem Verzehr von Fleischprodukten konnte dann in den Nachkriegsjahren in starkem Maß nachgekommen werden und erreichte mit ca. 82,5 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr seinen vorläufigen Höhepunkt in den 1970er-Jahren. Entgegen oft geäußerter, anderer Annahmen, wir würden uns derzeit auf dem fleischlichen Ernährungshöhepunkt befinden, zeigt sich anhand dieser wenigen Zahlen zum einen, dass dem nicht so ist, und zum anderen, dass der menschliche Fleischkonsum im Lauf der Jahrhunderte, durch äußere Faktoren verursacht, einem anhaltenden Wandel unterworfen ist. Fleischkonsum kann somit als Wohlstandsindikator gesehen werden und – damit unmittelbar verbunden – auch als Distinktionsmittel.
It’s the end of the meat as we know it?
Und nun? Besinnen wir uns unseres Fleischkonsums, indem wir über die Benennung von Fleischersatzprodukten diskutieren? Ändern wir unsere Einkaufslisten, weil wir uns jederzeit per Internet über einen gesunden Lebensstil informieren können? Oder versuchen wir, das Fleisch für den eigenen Konsum wieder selbst zu halten, zu schlachten und im Sinne einer umfassenden Resteverwertung zuzubereiten? Wohl kaum. Zumindest führt die Umsetzung nur einer einzigen dieser – zugegebenermaßen recht provokanten – Fragen nicht zu einer bewussteren Ernährung im Sinne einer Berücksichtigung ethisch korrekter Tierhaltung unter Miteinbeziehung ökologischer Überlegungen sowie des fairen Handels.
Dennoch bleibt es durchaus relevant, diese Fragen zu stellen, die Bewegungen anzustoßen und so zu Prozessen beizutragen. Denn das Konglomerat all dieser sich daraus ergebenden Entwicklungen wird vielleicht in einigen Jahrzehnten rückblickend analysiert und vielleicht auch in einem Beitrag wie diesem behandelt. Das Ergebnis unserer heutigen Entscheidungen in Bezug auf unseren Fleischkonsum wird sich somit in der Kulturbedeutung von Fleisch als Nahrungsmittel niederschlagen, wie es schon die Entscheidungen unserer Vorfahren auf die Entwicklungen taten, die wir heute mit Abstand betrachten und in Teilen bewerten