Dublin. James Joyce

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Dublin - James Joyce

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wenn alles vorbei ist, werden Sie ihn vermissen«, sagte meine Tante.

      »Das weiß ich«, sagte Elisa. »Nun bringe ich ihm seine Bouillon nicht mehr, und Sie schicken ihm keinen Schnupftabak mehr. Ach, der arme James.« Sie hielt inne, als beschäftige sie sich mit der Vergangenheit, und sagte dann fast verschmitzt: »Denken Sie mal an, ich habe es doch gemerkt, daß in der letzten Zeit was Seltsames mit ihm vorging. Jedesmal, wenn ich ihm seine Suppe hineinbrachte, lag er zurückgelehnt mit offenem Mund im Sessel, und sein Brevier war auf die Erde gefallen.«

      Sie legte einen Finger an die Nase, runzelte die Brauen; dann fuhr sie fort:

      »Aber immer wieder sagte er, ehe der Sommer vorüber wäre, möchte er an einem schönen Tage nach Irishtown rausfahren, unser altes Geburtshaus nochmal sehen und mich und Nannie mitnehmen. Wenn wir für den Tag nur billig einen von den neumodischen Wagen kriegen könnten, von denen Pater O’Rourke ihm erzählt hätte, die so leise und leicht fahren, daß der Rheumatismuskranke nichts davon merkt– bei Johnny Rush, grade gegenüber gäb’s solche, sagte er, dann wollten wir alle drei an einem Sonntagnachmittag mal rausfahren. Davon redete er immer wieder . . . Der arme James.«

      »Der Herr sei seiner Seele gnädig«, sagte meine Tante.

      Elisa zog ihr Taschentuch heraus und wischte sich damit die Augen. Dann steckte sie es wieder ein und sah ohne zu sprechen einige Zeit in den leeren Kamin.

      »Er war immer zu gewissenhaft«, sagte sie. »Die Pflichten der Priesterschaft waren für ihn zu schwer. Und dann war sein Leben, das kann man wohl sagen, auch nicht so einfach.«

      »Ja«, sagte meine Tante. »Er war ein Mann, der seine Enttäuschungen gehabt hat. Das sah man ihm an.«

      Im Schutze des Schweigens, das sich über das kleine Zimmer senkte, näherte ich mich dem Tisch, probierte meinen Sherry und kehrte dann ruhig auf meinen Stuhl in der Ecke zurück. Elisa schien in tiefe Träumerei versunken. Wir warteten respektvoll, daß sie das Schweigen bräche; und nach einer langen Pause sagte sie langsam:

      »Der Kelch, den er zerbrach . . . Damit fing’s an. Natürlich sagte man, das wäre weiter nicht schlimm, ich meine, daß er leer war. Aber immerhin . . . Der Knabe soll ja schuld haben. Aber der arme James war so nervös, Gott sei ihm gnädig.«

      »Und wie war’s denn eigentlich?« sagte meine Tante. »Ich habe wohl so allerhand gehört . . .«

      Elisa nickte.

      »Das hat ihn doch schwer getroffen«, sagte sie. »Hernach wurde er so schweigsam, redete mit niemandem und lief allein umher. Eines Abends wurde er gerufen, war aber nirgendwo zu finden. Das ganze Haus wurde abgesucht, von oben bis unten, nirgendwo war auch nur eine Spur von ihm zu entdecken. Da sagte der Küster, man sollte mal in der Kapelle nachsehen. Man holte die Schlüssel und öffnete die Kapelle, und der Küster und Pater O’Rourke und noch ein Priester, der da war, holten ein Licht, um ihn zu suchen . . . Und was glauben Sie, wo er war? Ganz allein saß er im Dunkeln, in seinem Beichtstuhl, halbwach, und schien leise vor sich hin zu lächeln.« Plötzlich war sie still, als lausche sie. Ich horchte auch; aber im Hause war kein Laut zu hören: und ich wußte, daß der alte Priester noch in seinem Sarge lag, wie wir ihn gesehen hatten, feierlich und schrecklich im Tode, einen leeren Kelch auf der Brust.

      Elisa wiederholte:

      »Halbwach und schien leise vor sich hin zu lächeln. Als sie das sahen, glaubten sie natürlich, daß es nicht ganz mit ihm stimmte . . .«

      EINE BEGEGNUNG

      Joe Dillon machte uns mit dem Wildwest bekannt. Er hatte eine kleine Bibliothek, die aus alten Nummern des Union Jack, Pluck und Half Penny Marvel bestand. Jeden Abend nach der Schule trafen wir uns in seinem Garten hinter dem Hause und veranstalteten Indianerkämpfe. Er und sein junger Bruder, der fette, faule Leo, verteidigten den Speicher über dem Stall, während wir ihn zu stürmen versuchten; oder wir schlugen eine regelrechte Schlacht auf dem Rasen. Aber so tapfer wir auch kämpften, nie gewannen wir bei der Belagerung oder in der Schlacht, und unsere Kämpfe endeten immer mit einem Siegestanz von Joe Dillon.

      Jeden Morgen gingen seine Eltern in die Acht-Uhr-Messe in der Gardiner Street, und der Flur des Hauses duftete nach der friedlichen Frau Dillon. Für uns, die wir jünger und ängstlicher waren, spielte er zu wild. Er sah wirklich aus wie ein Indianer, wenn er mit einer alten Teemütze auf dem Kopf durch den Garten sprang, wobei er mit der Faust auf eine Blechdose schlug und schrie:

      »Ya! yaka, yaka, yaka!«

      Jeder schüttelte ungläubig den Kopf, wenn erzählt wurde, er wolle Priester werden. Aber deshalb war es doch wahr. Ein Geist der Zuchtlosigkeit war bei uns eingeschlichen, und sein Einfluß ließ die Unterschiede der Bildung und des Temperaments verschwinden. Wir scharten uns zusammen, einige in frechem Übermut, andere aus Spaß und wieder andere aus Angst; und zu diesen letzteren, den Indianern wider Willen, die sich fürchteten, als Streber oder Angsthasen angesehen zu werden, gehörte auch ich. Die Abenteuer, die in der Literatur des Wildwest berichtet wurden, lagen mir gar nicht, aber schließlich öffneten sie mir Tore, durch die ich entwischen konnte. Viel besser gefielen mir gewisse amerikanische Detektivgeschichten, in denen dann und wann ungekämmte, wilde und schöne Mädchen vorkamen. Wenn auch nichts Schlimmes in diesen Geschichten passierte und ihre Absicht manchmal literarisch war, wurden sie in der Schule doch nur heimlich weitergegeben. Eines Tages, als Pater Butler die vier Seiten römische Geschichte abhörte, fiel der ungeschickte Leo Dillon mit einer Nummer des Half Penny Marvel auf.

      »Diese Seite oder diese Seite? Diese Seite? Nun, Dillon, du! Kaum war der Tag . . . Weiter! Welcher Tag? Kaum war der Tag angebrochen . . . Hast du gelernt? Was hast du denn da in der Tasche?«

      Wir bekamen alle Herzklopfen, als Leo Dillon ihm das Heftchen reichte, und machten alle ein unschuldiges Gesicht. Pater Butler schlug die Seiten um, runzelte die Stirn.

      »Was ist denn das für Zeug?« sagte er. »Der Apachenhäuptling!So was also liesest du, anstatt deine römische Geschichte zu lernen! Daß ich in der Schule nie wieder solches Dreckzeug finde! Wer so was schreibt, kann nur ein ganz elender Kerl sein, der sich mit seinem Mist ein paar Saufgroschen verdienen will. Ich bin überrascht, daß so gebildete Jungen wie ihr solchen Dreck lesen. Ich könnte das verstehen, wenn ihr in . . . die National School ginget. Also, Dillon, das rate ich dir allen Ernstes, setz’ dich auf die Hosen, oder . . .«

      Dieser Tadel während der trockenen Schulstunde ließ in meinen Augen den Glanz des Wildwest verblassen, und Leo Dillons verwirrtes, aufgedunsenes Gesicht brachte mich etwas zur Selbstbesinnung. Als aber der hemmende Einfluß der Schule hinter mir lag, hungerte ich wieder nach wilden Sensationen, nach einem Entrinnen, was mir beides nur diese wilden Geschichten zu geben vermochten. Die abendlichen Kriegsspiele waren mir schließlich ebenso langweilig wie der morgendliche Betrieb in der Schule; ich sehnte mich nach wirklichen Abenteuern. Aber wirkliche Abenteuer, so überlegte ich, erleben die nicht, die zu Hause bleiben: man muß sie draußen suchen. Die Sommerferien standen vor der Tür, als ich mich entschloß, wenigstens für einen Tag der Öde des Schullebens zu entfliehen. Mit Leo Dillon und einem andern Jungen namens Mahony plante ich ein eintägiges Schwänzen. Jeder von uns sparte sich Sixpence. Um zehn Uhr morgens wollten wir uns auf der Canal Bridge treffen. Mahonys große Schwester sollte für diesen eine Entschuldigung schreiben, und Leo Dillons Bruder sollte bestellen, er sei krank. Wir verabredeten, die Wharf Road hinunterzugehen bis zu den Schiffen; dort wollten wir mit der Fähre übersetzen und zum Pigeon House wandern. Leo Dillon hatte Angst, wir könnten Pater Butler oder sonst jemandem aus dem College begegnen; aber Mahony fragte ganz richtig, was Pater Butler denn wohl beim Pigeon House zu suchen hätte. Wir beruhigten uns wieder: und ich erledigte den ersten Teil

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