Dublin. James Joyce
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»Erzählen Sie uns doch mal«, sagte Mahony ganz offen zu dem Mann, »wieviel Sie selbst haben.«
Wieder lächelte der Mann und sagte, daß er, als er in unserem Alter war, eine Menge Liebchen gehabt hätte.
»Jeder Junge«, sagte er, »hat ein kleines Liebchen.«
Seine Einstellung in dieser Sache kam mir für einen Mann seines Alters ziemlich frei vor. In meinem Herzen dachte ich, daß das, was er über Jungens und Liebchen sagte, vernünftig war. Aber in seinem Munde mißfielen mir diese Worte, und ich fragte mich, warum er zwei- oder dreimal zusammenschauderte, als hätte er vor etwas Angst oder fühlte plötzliche Kälte. Als er weiterredete, bemerkte ich, daß er eine gute Aussprache hatte. Jetzt sprach er mit uns über Mädchen, sagte, was für schönes, weiches Haar sie hätten, wie weich ihre Hände wären und daß alle Mädchen gar nicht so brav wären, wie sie täten, man müßte nur Bescheid wissen. Nichts betrachte er so gerne, sagte er, wie ein schönes, junges Mädchen, ihre schönen, weißen Hände und ihr schönes, weiches Haar. Ich hatte dabei den Eindruck, als wiederholte er etwas, das er auswendig gelernt hatte, oder um das sich sein Geist, von denselben Worten magnetisiert, immer wieder langsam im Kreise drehte. Manchmal klang es, als spiele er auf eine Tatsache an, die jeder wüßte, und dann wieder dämpfte er seine Stimme und sprach geheimnisvoll, als erzähle er uns ein Geheimnis, das kein anderer hören dürfe. Er wiederholte seine Sätze immer wieder, variierte sie und hüllte sie in seine monotone Stimme. Ich sah immer nach dem Fuß des Abhangs, hörte auf seine Worte.
Nach langer Zeit war sein Monolog zu Ende. Langsam stand er auf, sagte, er müsse uns eine Minute oder so verlassen, und ohne daß ich die Richtung meines Blickes zu ändern brauchte, sah ich ihn langsam nach dem nahen Ende des Feldes zu fortgehen. Wir sagten nichts, als er gegangen war. Nach einem Schweigen, das einige Minuten gedauert hatte, hörte ich Mahony rufen:
»Ne, so was! Sieh mal, was der macht!«
Als ich weder antwortete noch aufsah, rief Mahony wieder:
»Ne, so was! Der hat sie nicht alle auf der Latte!«
»Wenn er uns nach unserm Namen fragen sollte«, sagte ich,
dann heißest du Murphy und ich Smith.«
Weiter sagten wir nichts zueinander. Ich überlegte noch, ob ich fortgehen sollte oder nicht, als der Mann zurückkam und sich wieder neben uns setzte. Kaum hatte er sich gesetzt, als Mahony die Katze sah, die ihm vorhin entwischt war, aufsprang und querfeldein hinter ihr herlief. Der Mann und ich beobachteten die Jagd. Wieder entwischte die Katze, und Mahony warf mit Steinen nach der Mauer, über die sie geklettert war. Dann gab er auch das auf und bummelte ziellos am andern Ende des Feldes umher.
Nach einer Pause redete mich der Mann wieder an. Er sagte, mein Freund wäre ein arger Schlingel, und fragte mich, ob er in der Schule oft Prügel bekäme. Ich wollte ihm gerade empört antworten, wir seien keine Schüler der National School, die Prügel bekämen, wie er es nannte; aber ich sagte nichts. Jetzt redete er über Züchtigung von Knaben. Wieder schien sich sein Geist, von seinen eigenen Worten magnetisiert, fortwährend langsam in diesem neuen Kreise zu drehen. Er sagte, wenn Jungens so wären, müßten sie Prügel, gehörig Prügel haben. Wenn ein Junge ungezogen und unbändig wäre, bekäme ihm nichts so gut wie eine gehörige Tracht Prügel. Ein Schlag in die Hand oder eine Ohrfeige, das wäre nichts: eine leckere Tracht Prügel, das wäre das Richtige. Ich war von dieser Ansicht überrascht und sah ihm unwillkürlich ins Gesicht. Dabei begegnete ich dem Blick von zwei flaschengrünen Augen, die mich unter zuckender Stirn her ansahen. Ich sah wieder weg. Der Mann setzte seinen Monolog fort. Er schien seine freien Anschauungen von eben ganz vergessen zu haben. Er sagte, er würde jeden Jungen, der mit Mädchen redete oder ein Mädchen zum Liebchen hätte, verprügeln, ganz gehörig verprügeln, und das würde ihn lehren, nicht mit Mädchen zu sprechen. Und hätte ein Junge ein Liebchen und erzählte darüber Lügen, dann würde er ihn so verprügeln, wie noch nie ein Junge verprügelt worden wäre. Er sagte, nichts auf der Welt würde er so gerne tun. Er beschrieb mir, wie er einen solchen verprügeln würde, als handle es sich um die Enthüllung eines großen Geheimnisses. Nichts auf der Welt täte er lieber als das, sagte er; und während er mich monoton in das Geheimnis einführte, wurde seine Stimme fast liebevoll und schien mich anzuflehen, ihn doch zu verstehen. Ich wartete, bis wieder eine Pause in seinem Monolog eintrat. Dann stand ich plötzlich auf. Um meine Erregung nicht zu verraten, blieb ich noch ein paar Augenblicke und tat so, als schnürte ich mir den Schuh zu; dann sagte ich, ich müsse gehen, und wünschte ihm guten Tag. Ruhig ging ich die Böschung hinauf, aber mir schlug das Herz schneller, denn ich fürchtete, er würde mich bei den Henkeln fassen. Als ich oben auf der Böschung stand, drehte ich mich um und rief, ohne ihn anzusehen, laut über das Feld:
»Murphy.«
Meine Stimme klang gemacht mutig, und ich schämte mich meiner erbärmlichen List. Noch einmal mußte ich den Namen rufen, ehe Mahony mich sah und dann Hallo! rief.
Wie schlug mir das Herz, als er über das Feld auf mich zu gelaufen kam. Er lief, als brächte er mir Hilfe. Und ich empfand Reue; denn in meinem Herzen hatte ich ihn immer ein wenig verachtet.
ARABIEN
Da die North Richmond Street eine Sackgasse ist, war sie, abgesehen von der Stunde, zu der die Christian Brothers’ School ihre Schüler entließ, eine stille Straße. Am Ende der Sackgasse stand auf einem viereckigen Grundstück ein einzelnes, unbewohntes, zweistöckiges Haus. Die anderen Häuser der Straße, die sich des anständigen Lebens in ihrem Innern bewußt waren, sahen einander mit braunen, unerschütterlichen Gesichtern an.
Der frühere Mieter unseres Hauses, ein Priester, war in dem hinteren Wohnzimmer gestorben. Muffige Luft hing in den Räumen, die lange nicht geöffnet worden waren, und in dem großen Raum hinter der Küche lag altes, wertloses Papier umher. Unter diesem fand ich einige broschierte Bücher, deren Seiten kraus und feucht waren: The Abbot von Walter Scott, The Devout Communicant und The Memoirs of Vidocq. Letzteres mochte ich am liebsten, weil seine Blätter gelb waren. Der wilde Garten hinter dem Hause hatte in der Mitte einen Apfelbaum und ein paar vereinzelte Büsche; unter einem von ihnen fand ich die rostige Fahrradpumpe des verstorbenen Mieters. Er war ein sehr mildtätiger Priester gewesen. In seinem Testament hatte er sein ganzes Geld Instituten und die Einrichtung seines Hauses seiner Schwester vermacht. Als die kurzen Wintertage kamen, war es schon dunkel, ehe wir noch mit dem Mittagessen fertig waren. Und wenn wir uns dann auf der Straße zusammenfanden, waren die Häuser schwarz geworden. Das Stück Himmel über uns wechselte in mannigfachem Violett, und die Straßenlaternen reckten ihm ihr schwaches Licht entgegen. Die kalte Luft stach uns, und wir spielten, bis uns der Körper glühte. Unsere Rufe hallten in der stillen Straße wider. Unser Spiel führte uns durch die dunklen, schmutzigen Gassen hinter den Häusern, wo wir die wilden Stämme aus den Hütten zum Kampfe herausforderten, bis an die Hintertüren der dunklen, feuchten Gärten, wo aus den Abfallgruben Düfte aufstiegen, bis an die dunklen, stinkenden Ställe, wo der Kutscher das Pferd striegelte und kämmte oder Musik aus den Schnallen des Geschirrs schüttelte. Wenn wir auf die Straße zurückkehrten, hatte Licht aus den Küchenfenstern die Vorgärten erfüllt. Wenn wir meinen Onkel um die Ecke kommen sahen, versteckten wir uns im Dunkeln, bis wir gesehen hatten, daß er glücklich im Hause war. Oder wenn Mangans Schwester auf der Türschwelle erschien und ihren Bruder zum Tee hereinrief, beobachteten wir sie aus unserem Dunkel, wie sie die Straße auf und ab sah. Wir warteten, ob sie blieb oder wieder hineinging, und wenn sie blieb, verließen wir resigniert unser Versteck und gingen bis an Mangans Tür. Sie wartete auf uns, ihre Gestalt stand sichtbar im Licht, das aus der halboffenen Tür strömte. Ihr Bruder neckte sie immer, bevor er gehorchte, und ich stand am Gitter und