Das Haus der Stimmen. Ursula Isbel-Dotzler

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Das Haus der Stimmen - Ursula Isbel-Dotzler

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      Schweißgebadet schleppte ich mich an Deck und ließ mir den Seewind um die Nase wehen. Schon verschwand die Küste hinter rauchfarbenen Dunstschwaden. Das Meer war schiefergrau unter den tief hängenden Wolken.

      Meine Mutter kam mit einem Becher Kaffee. „Hier, trink das!”, sagte sie. „Das war ziemlich stressig für eine Anfängerin.”

      „Ja; besonders, wenn einem jemand ständig wie verrückt ins Ohr kreischt. Das baut unheimlich auf.”

      Je weiter wir aufs offene Meer kamen, desto rauer wurde der Wind. Wir setzten uns in den verräucherten Aufenthaltsraum, in dem es Bier, Zigaretten, Erbsensuppe und Kaffee zu kaufen gab. Neben ein paar deutschen Touristen waren vor allem Dänen an Bord. Der Klang ihrer Sprache weckte Erinnerungen in mir.

      Wir waren vor dreizehn Jahren schon einmal in den Sommerferien auf der Füneninsel gewesen, um Tante Jule zu besuchen, damals noch vollzählig – meine Eltern, Sylvie, meine Schwester, und ich, gerade sechs Jahre alt.

      „Was für eine schreckliche Sprache!”, sagte Mama, den Blick auf die schiefergraue Wasserfläche hinter den staubigen Scheiben gerichtet. „Sie rollen die Worte, als hätten sie heiße Kartoffeln im Mund.”

      Ich sah Tante Jule vor mir, klein, zierlich und ständig in Bewegung, mit verblassenden blonden Haaren und flinken dunklen Augen. Und ihre Freundin Jette, untersetzt und ein wenig vierschrötig, wie Vater das nannte. Ich erinnerte mich an ihre tiefe, volltönende Stimme und die hellen Augen. Jette hatte Pfeife geraucht – Pfeife! Für uns Kinder war das ein Quell ständiger Verwunderung gewesen, es hatte uns fasziniert. Inzwischen wusste ich, dass das Rauchen von Pfeife oder Zigarillos bei dänischen Frauen eine lange Tradition hat und nicht weiter ungewöhnlich ist.

      Ich dachte an die Blicke, die meine Eltern getauscht hatten, wenn Tante Jule und ihre Freundin Jette Hand in Hand vom Strand kamen, wenn sie abends gemeinsam in der Schlafstube verschwanden, die über dem Wohnzimmer lag, oder sich spontan umarmten und küssten, wenn sie etwas besonders stark bewegte.

      Sonderbar hatte ich nur die Reaktion meiner Eltern gefunden, denn ich begriff mit der Einfühlungsgabe eines Kindes, dass da etwas anders war, als es ihrer Meinung nach sein sollte.

      „Seit wann lebt Tante Jule allein?”, fragte ich.

      Mama überlegte. „Wart mal, wie lange ist es her, seit Jette gestorben ist? Zwei Jahre, würde ich sagen.”

      „Und ihr Mann? Tante Jule war doch mal verheiratet, nicht? Lebt er noch auf der Insel?”

      „Wohl kaum. Die beiden hatten nach der Scheidung keinen Kontakt mehr, er war furchtbar gekränkt und böse, weil sie ihn verlassen hatte, noch dazu … “ Sie verstummte.

      „Noch dazu wegen einer Frau”, vervollständigte ich. „Du kannst es ruhig aussprechen, was ist schon dabei? Sie waren glücklich miteinander. Das ist alles, was zählt.”

      3

      Vielleicht entwickelt man den Sinn für das Schöne ja erst mit dem Erwachsenwerden. Ich hatte die Insel nicht als einen besonders reizvollen Ort in Erinnerung. Das, was mich beeindruckte, war das Meer gewesen, die Spiele am Strand, ein Mädchen in meinem Alter, mit dem ich viel Zeit verbrachte; die Früchte der wilden Mirabellenbäumchen in den Hecken und der Geschmack von Tante Jules Kranzkuchen.

      Jetzt war ich alt genug, um die Schönheit dieser kleinen fünenschen Insel wahrzunehmen. Wir fuhren auf einer schmalen Landstraße zwischen Weizenfeldern und der Küste, mit Blick auf sanft geschwungene Buchten und zerklüftete Steilhänge, vorbei an Bilderbuchhäusern aus Fachwerk, deren dicke Reetdächer wie die Bärenfellmützen der englischen Palastwache aussahen. Heckenrosen blühten am Straßenrand. Unterwegs kam zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne zwischen Wolkengebirgen hervor.

      Ich kurbelte mein Fenster herunter. Es roch nach Weizenfeldern, nach Meer und Wind; und ein unsagbarer Frieden erfüllte die prickelnde Luft, so, als wären wir an einen Ort gekommen, den mehr als nur ein paar Seemeilen vom Rest der Welt trennten – eine Welt, in der alles seinen eigenen Rhythmus hatte und seinen ureigensten Gesetzen folgte.

      „Schau, da ist ein Schild!”, sagte meine Mutter. „Røndal – das war doch die Ortschaft, in der wir links abbiegen sollten, nicht? Jedenfalls hab ich den Mann am Hafen so verstanden. Er sprach ja ein derartiges Kauderwelsch … “

      Es war keine Ortschaft, nur eine Ansammlung von sieben oder acht Häusern und Höfen, die inmitten blühender Gärten die Straße säumten, und einige hatten Namen. Eines davon, ein Backsteinhaus mit Vortreppe und hohen Fenstern, hieß Peders Minde.

      „Jules und Jettes altes Häuschen war in der Nähe des Fährhafens; das hätte ich vielleicht wieder gefunden”, sagte Mama. „Jetzt nach links! Ja, das müsste stimmen, wir sollten an den Windmühlen vorbei, hat er gesagt, und da sind sie.”

      Ein halbes Dutzend Pferde grasten auf den Klippen. Ihre Mähnen und Schweife wehten im Wind. Ein Brauner hob den Kopf und sah zu uns herüber, als wir vorüberfuhren.

      Mein Herz schlug rascher. Und plötzlich, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, war alles verändert. Unversehens war diese Reise nicht länger eine Pflichtübung, etwas, das erledigt und möglichst rasch abgehakt werden musste, sondern ein Geschenk des Schicksals, ein unverhofftes Stück Freiheit und Abenteuer.

      Die Landstraße führte in Schlangenlinien immer dichter an der Küste entlang, sodass ich von meinem Platz hinter dem Steuer tief unter mir das Meer glitzern sah, mit Segelschiffen und dem Fährboot, das inzwischen wieder abgelegt hatte und zum Festland zurückkehrte. Es war kaum Verkehr auf der Straße; nur ein Lieferwagen begegnete uns, ein Traktor und eine Gruppe Radfahrer.

      „Dein Vater hat immer gesagt, diese Insel ist eine Welt für sich. Er hatte sogar mal die Idee, wir könnten uns hier eine von den kleinen alten Fischerkaten kaufen und als Ferienhaus nutzen. Leider ist daraus nichts geworden.”

      Mein Vater war ein Meister im Pläneschmieden. „War da nicht eben ein Schild?”, fragte ich. „Hast du gelesen, was darauf stand?”

      Meine Mutter, offenbar in trübe Erinnerungen versunken, schüttelte den Kopf.

      Ich legte den Rückwärtsgang ein. Dunkær, stand auf dem Schild. „Dann müssen wir jetzt geradeaus weiter.”

      „Nein”, behauptete Mama. „Wieder nach links!”

      Später fanden wir heraus, dass beide Wege nach Dunkær führten, auch wenn einer davon ein Umweg war. Wir fuhren den Umweg, der an drei seltsamen Gebilden aus Steinblöcken und einer Kuhweide vorbei im Zickzackkurs der Küstenlinie folgte; und auf dem höchsten Punkt, auf einer Art Plattform über dem Meer, umgeben von Bäumen, die unter dem ständigen Anprall des Windes in Schräglage gewachsen waren, standen zwei Häuser.

      Das erste Haus war fast an den Straßenrand gebaut. Es war sehr klein, mit struppigem Strohdach und winzigen, gewölbten Fensterscheiben, in denen sich das Licht brach. Das zweite Haus, auf dem höchsten Punkt der Klippen errichtet, war von mächtigen Rotbuchen umgeben. Das ockerfarbene Dach leuchtete aus den Baumwipfeln.

      Es stand am Ende einer Lindenallee, ein großes Haus, nicht mehr als zwei Stockwerke hoch, aber breit angelegt, mit einem Quergiebel in der Mitte und zwei Seitenflügeln. Der mittlere Teil des Hauses mit der Vortreppe und dem Eingang war ein Stück vorgesetzt. Über der Treppe befand sich ein halbmondförmiges Fenster.

      „Das

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