Das Haus der Stimmen. Ursula Isbel-Dotzler
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„Jette hat mal wieder vergessen einzukaufen”, sagte Tante Jule. Das war nicht das erste Anzeichen von Verwirrung, das uns auffiel; ein Zustand, der kam und ging, ohne dass es einen bestimmten Anlass dafür zu geben schien.
Was mich stärker beschäftigte, war die Sache mit dem Zimmer. Ihr habt sie herausgelassen … Die Anschuldigung echote in meinem Kopf; ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Irgendwie hatte es geklungen, als wären Geister oder Kobolde im Raum eingeschlossen gewesen, gefährliche, unsichtbare Wesen, die sich nun frei bewegten und das ganze Haus unsicher machten.
Doch natürlich war das alles Unsinn, die Schrullen einer alten Frau, wie Mama versichert hatte.
„Es klingt beinahe, als hätte sie einen leichten Verfolgungswahn”, sagte sie noch vor dem Einschlafen. „Vielleicht hat sie deshalb auch die Eingangstür verschlossen und den Schlüssel so gut versteckt, dass sie ihn jetzt nicht wieder findet.”
Zwischen den Windstößen, die wie heftige Atemzüge klangen, hörte ich das Meer, das Geräusch der Wellen, die die Küste umspülten. Es klang wunderbar, eine Melodie, die ein Echo in meinem Inneren fand, so, als gäbe es einen Gleichklang zwischen dem Rhythmus meines Blutes und dem der Wellen.
Das Rauschen und Brausen trug und schaukelte mich. Vielleicht war ich als ungeborenes Kind so im Bauch meiner Mutter geschaukelt worden, oder ich kannte das Wiegen und Branden aus uralter Zeit, einem Wissen, das die Tiefenpsychologen „das kollektive Gedächtnis” nennen.
Endlich schlief ich ein und erwachte jäh von einem drängenden Raunen und Wispern. Um mich her war es dunkel.
Ich setzte mich im Bett auf, lauschte und überlegte, wo der Schalter für die Nachttischlampe sein mochte. Meine Mutter schnarchte vor sich hin. Die Stimmen waren verstummt, doch vielleicht hatte ich Mamas Gepruste für Flüstern gehalten, oder den Wind, der ums Haus strich; oder das Gischten der Wellen, die über den Strand spülten.
Ich legte mich wieder zurück. Erst jetzt spürte ich, wie heftig mein Herz schlug. Der Raum roch dumpf wie ein unterirdisches Gewölbe. Was hatte ich geträumt?
Ich war mit Michael in einer Kirche gewesen, doch es war keine Hochzeit, sondern eine Beerdigung, bei der es keine Trauergäste außer uns beiden gab, auch keinen Priester. Und die Kirche war keine richtige Kirche gewesen, sondern eine Art Mausoleum oder Gruft. Hatte ich die flüsternden Stimmen vielleicht nur geträumt?
Vergeblich versuchte ich wieder einzuschlafen. Das Haus schien seinen eigenen Atem zu haben, einen verbrauchten, modrigen Atem. Er lastete wie ein Druck auf mir, obwohl wir die Fensterflügel vor dem Zubettgehen ein Stück geöffnet und mit Riegeln gegen den Wind gesichert hatten.
Nach einer Ewigkeit schwang ich die Beine über die Bettkante und tappte zu den grauen Lichtvierecken, über denen sich die Gardinen im Luftzug blähten. Dabei stolperte ich über meine Schuhe und stieß mir die Zehen an einem Stuhlbein.
Minutenlang fummelte ich an den Fensterriegeln herum und gab mir alle Mühe, leise zu sein. Die hereinströmende Nachtluft war köstlich. Sie trug mir den Duft des Meeres und der Weizenfelder zu. Draußen war es dunkel, eine Nacht ohne Mond und Sterne. Die Blutbuchen umgaben das Haus wie ein schwarzer Wall. Manchmal blitzte ein Lichtsignal durch die Finsternis, wanderte über den dunklen Himmel und verschwand.
Ich ließ das Fenster weit offen und ging ins Bett zurück. Kaum lag ich wieder unter der schweren, klammen Decke, begann ein Fensterflügel im Wind zu klappern. Ich machte die Augen zu und versuchte nicht hinzuhören.
Dann wachte meine Mutter auf. „Was ist das für ein Lärm”, murmelte sie schlaftrunken. „Erst flüsterst du dauernd, und jetzt dieses Geklapper … Hast du das Fenster aufgerissen?”
„Ich hab nicht geflüstert”, sagte ich.
Das Knarren ihres Bettes verriet mir, dass sie sich umdrehte. Es folgte ein unverständliches Gemurmel und ein Seufzer. An ihren regelmäßigen Atemzügen erkannte ich, dass sie wieder eingeschlafen war. Am nächsten Morgen wäre ich am liebsten im Bett geblieben, während Mama schon munter aus dem Badezimmer kam.
„Das Wasser ist nur lauwarm!”, verkündete sie. „Wahrscheinlich funktioniert der Boiler nicht mehr richtig. Steh auf, Sofie, wir müssen gleich zum Hafen fahren und einkaufen, es ist ja nichts mehr im Haus.”
Tante Jule weigerte sich mitzufahren. „Ich gehe nicht mehr gern unter Menschen”, sagte sie entschieden. „Sørensen bringt mir ab und zu einen Karton Lebensmittel, und Wognsens liefern Futter für die Tiere. Ich esse sehr wenig – etwas Brot und Obst, ein paar Kartoffeln, ab und zu mal ein Ei.”
Damit ging sie hinaus, um den Rotfuchs und die Hühner zu füttern. Die Katzen folgten ihr, kläglich maunzend und mit hoch erhobenen Schwänzen. Inzwischen waren es drei; eine zarte graue Kätzin namens Hulda hatte sich zu ihnen gesellt.
„Übrigens”, sagte ich, während ich mich hinters Steuer setzte, „ich habe letzte Nacht nicht geflüstert.”
„Mir war aber so, als hätte mir irgendwer ins Ohr geflüstert.”
„Mir auch”, sagte ich, die Hand am Zündschlüssel.
„Vielleicht hat eine von uns im Schlaf gesprochen?”
Ich schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein, dann hätten wir es ja nicht beide gehört. Und dass wir alle zwei im Schlaf geflüstert haben, ist eher unwahrscheinlich.”
„Möglicherweise war Jule bei uns im Zimmer. Zutrauen würde ich es ihr. Ich glaube, sie ist ein bisschen verrückt, Sofie.”
Wir sahen uns an. „Ich weiß nicht”, sagte ich nach einer Weile. „Sie ist einfach nur sonderbar und ab und zu etwas wirr. Aber dass sie nachts in unser Zimmer schleicht und uns ins Ohr flüstert – nein, du, das kann ich mir nicht vorstellen.”
Beim Supermarkt Brugsen am Fährhafen kauften wir drei Kartons voller Lebensmittel und beim Bäcker einen köstlichen Hefekranz mit Nussfüllung, der Kransekage hieß. Davon vertilgte ich während der Rückfahrt fast die Hälfte.
„Wir müssen uns erkundigen, ob es auf der Insel ein Seniorenheim gibt”, sagte Mama, während ich den Kuchen kaute. „Jule kann unmöglich weiter allein in diesem riesigen alten Kasten hausen. Sie isst ja kaum noch etwas.”
„Alte Leute essen oft nicht sehr viel. Und ich glaube, sie ist ganz zufrieden. Ihre Tiere versorgt sie jedenfalls gut, das sieht man.”
„Ja, aber lange geht das nicht mehr so mit ihr. Eines Tages brennt sie das ganze Haus ab. Sie hat doch nur Kohleöfen in den Zimmern.”
„Freiwillig geht Tante Jule bestimmt nicht ins Seniorenheim”, sagte ich. „Und zwingen kannst du sie nicht.”
„Man müsste mal mit ihrem Arzt sprechen. Ein Arzt könnte sie sicher … einweisen.” Bei dem Wort „einweisen” stockte sie. Offenbar merkte sie selbst, wie sehr es nach Zwang und Gefängnis klang.
„Das kannst du nicht machen”, erwiderte ich. „Vielleicht finden wir jemanden, der täglich ein paar Stunden nach ihr sieht.”
„Und