Wer die Leidenshaft flieht. Barbara Cartland
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Читать онлайн книгу Wer die Leidenshaft flieht - Barbara Cartland страница 2
»Und nur du und ich sind da, um sie zu empfangen!« Nachdenklich stützte Fleur ihr Kinn in die Hand. »Ich muß fort, Marie. Die Deutschen kann man ja noch täuschen, aber die Familie wird sich nicht so leicht hinters Licht führen lassen.«
»Aber wohin wollen Sie gehen, Mademoiselle?«
»Ich weiß es nicht.«
Fleur streckte die Hand aus und nahm einen der süßen, gezuckerten Kekse, die sie während all dieser Monate des Hungers für die Comtesse aufbewahrt hatten.
Aber wenn Marie auch Kekse und Brandy und andere kleine Delikatessen verstecken konnte, Menschen konnte sie nicht verstecken, und Fleur begriff zum ersten Mal, wie gefährlich ihre Lage war.
Die Monate waren wie im Traum vergangen - ohne Schwierigkeiten. Die Deutschen waren zwar wirklich schon im Haus gewesen, und die Comtesse war ihren Forderungen mit kühler Würde nachgekommen, die eine größere Beleidigung war als es Schimpfworte hätten sein können.
Das Château lag etwas abseits, und man hatte keine Offiziere oder Soldaten einquartiert. Die Deutschen hatten die Damen zuvorkommend behandelt, nur ein Teil der landwirtschaftlichen Erträge, Luciens Wagen und Maschinen und Werkzeuge wurden ohne Erklärung oder Entschuldigung beschlagnahmt.
Im Übrigen ging das Leben ohne Veränderungen weiter. Nur wurden die Schloßbewohner seit diesen Ereignissen von einer unbestimmten Furcht beherrscht. Niemand sprach darüber, aber alle hatten Angst, daß noch etwas Schreckliches geschehen könnte.
»Wir müssen nachdenken, Marie«, meinte sie jetzt. »Irgendeine Lösung wird uns schon einfallen.«
Sie trank langsam ihren Kaffee aus und genoß jeden Schluck. Er war köstlich. Und auch die Kekse! Wie sehr hatte sie sich manchmal nach etwas Süßem gesehnt!
Marie zog die Vorhänge zurück, und die heiße, goldene Nachmittagssonne erhellte den Raum.
»Waren heute noch keine Flugzeuge zu sehen?«
Marie schüttelte den Kopf.
»Kein einziges«, antwortete sie. »Aber Fabian kam vor einer Weile vom Dorf herauf und erzählte, daß gestern zwei Maschinen abgeschossen wurden, eine ist ungefähr zehn Meilen von hier in ein Feld gestürzt. Die Dorfbewohner sind zu Hilfe geeilt, aber es war schon zu spät. Die Männer sind alle, bis auf einen, verbrannt, und den haben die Deutschen ins Lazarett gebracht.«
»War er schwer verwundet?«
»Fabian wußte es nicht, aber ich wäre lieber in Gottes Händen als der Gnade dieser Teufel ausgeliefert.«
Fleur strich sich das Haar aus den Augen. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn Lucien ein Gefangener gewesen wäre, anstatt sich, wie Marie es ausdrückte, in Gottes Händen zu befinden.
Nach dem Abzug der British Expeditionary Force aus Dünkirchen machten Gerüchte die Runde, daß die Gefangenen in deutschen Lagern hungerten und froren. Aber jetzt sollte alles - wenn man den Leuten Glauben schenken durfte - besser werden, und es bestand die schwache Hoffnung, daß die französischen Gefangenen wieder in die Heimat zurückkehren durften. Es wurde viel geredet, der Optimismus war unerschütterlich, aber dennoch geschah nichts, na ja, vielleicht entwickelte sich doch noch alles zum Guten. Fleur fiel es schwer, das zu glauben, wenn sie daran dachte, daß Lucien bereits zwei Wochen nach Beginn der Feindseligkeiten abgeschossen worden war.
In der zweiten Woche! Fleur erinnerte sich noch so gut an die ungläubige Überraschung, an das Staunen und den Schmerz, die sie nach der Schreckensnachricht, daß Lucien beim Überfliegen der Maginot-Linie getötet worden war, empfunden hatte. An diesem Tag war die Kälte zwischen ihr und Luciens Mutter geschwunden, war die Barriere gefallen. Die beiden Frauen hatten zusammen geweint, vereint durch den Verlust, vereint wie sie es nie hätten sein können, hätte Lucien gelebt. Es war merkwürdig, wenn sie jetzt daran dachte, wie sehr sie die Comtesse gefürchtet hatte, denn Fleur war nicht auf jemanden wie Luciens Mutter vorbereitet. Erst jetzt konnte sie verstehen, was das Geheimnis war, das ihre eigene französische Großmutter zu umgeben schien, nach der sie benannt worden war, konnte begreifen, warum ihre Mutter immer mit mehr Ehrfurcht als Zuneigung von ihr gesprochen hatte.
Aristokraten! Es war unmöglich, fand Fleur, daß sie oder eine andere Frau ihrer Generation jemals eine solche Würde und Haltung ausstrahlen würden.
Uns fehlt die Muße, graziös und ruhig zu sein, dachte sie einmal. Wir müssen gierig nach allem greifen, was wir haben wollen, damit nicht jemand anderer es zuerst bekommt.
Dieser Gedanke erinnerte sie an Sylvia - Sylvia, mit ihren rotlackierten Nägeln, dem geschminkten, geschwungenen Mund und dem herausfordernden Blick ... Sylvia, die bis zum Mittagessen in einem schmuddeligen Hausmantel und einem alten Paar Hausschuhe mit abgelaufenen Absätzen durchs Haus schlurfte ... Sylvia, unordentlich und nachlässig, und doch immer auf triumphierende Art schön - aufreizend durch eine Sinnlichkeit, die man nicht übersehen konnte - grell und doch begehrenswert.
Fleur schauderte noch heute, wenn sie an den Tag dachte, an dem ihr Vater Sylvia in ihr Heim gebracht hatte. Sylvia stellte das ganze Haus auf den Kopf und erfüllte es mit ihrem schrillen Gelächter. Fleur konnte nicht fassen, daß ihr Vater wollte, daß diese Frau den Platz ihrer Mutter einnahm; und dennoch, trotz ihres Schmerzes, trotz ihrer bitteren Abneigung verstand Fleur doch ein wenig, daß er von Sylvia fasziniert war.
In der ersten Zeit war Fleur verwirrt und zog sich zurück. Erst später begriff sie, wie verdorben Sylvia war. Sie hatte sich heimlich an einen jungen Mann herangemacht, den Fleur ihrem Vater vorgestellt hatte. Fleur ließ sich zunächst von Sylvias Charme, mit dem sie den jungen Mann willkommen geheißen hatte, täuschen, doch dann fiel ihr auf, daß ihr Freund anfing, ihr aus dem Weg zu gehen und beschämt vor ihr zurückzuweichen. Fleur war tief verletzt und - auch um ihres Vaters willen - entsetzt.
Sie würde nie vergessen, wie sie damals aus dem Haus in den strömenden Regen gelaufen und blindlings über die Klippen gerannt war, ungeachtet ihrer durchnäßten Kleidung.
Sie kehrte nur nach Hause zurück, weil sie ihren Vater trotz all seiner Schwächen liebte. Arthur Garton war ein kluger Mann, was die Literatur betraf; was Frauen anging, war er ein Narr.
Kurz nach seinem fünfundvierzigsten Geburtstag hatte er sich aus dem Familienunternehmen zurückgezogen und widmete sich seit dieser Zeit nur noch der Schriftstellerei und dem Golfspiel. Er baute ein Haus am Ortsrand von Seaford. Arthur Garton war glücklich dort, saß bequem an seinem eigenen Kamin und schrieb.
Nach dem Tode von Fleurs Mutter hätte er vielleicht in diesem Stil weitergelebt, wäre er nicht Sylvia begegnet.
Sylvia suchte jemanden, der ihre Rechnungen bezahlte und ihr ein Dach über dem Kopf bot. Es war ganz einfach für sie, einen so schwachen und idealistischen Mann wie Arthur Garton zu umgarnen. Nur einen Monat nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, heirateten sie, und Fleur erfuhr erst nach der Zeremonie davon. Natürlich war es dann zu spät für Protest. Fleur konnte ihren Vater nicht mehr an die Frau erinnern, die ihr zwanzig Jahre zuvor das Leben geschenkt und die ihn, bis sie starb, geliebt hatte. Sylvia sorgte dafür, daß Fleur nicht mit ihrem Vater sprechen konnte, und bewies damit, daß sie ein untrügliches Gespür für Gefahr hatte und sie abwehrte, ehe sie ihr schaden konnte.
Doch nach vier Jahren Ehe mit Arthur Garton wurde sie sorglos. Sie unterschätzte ihn, unterschätzte auch den Anstand eines Gentleman. Als er bestätigt fand, was er wohl schon lange vermutet hatte, ging Arthur