Gottloser Westen?. Alexander Garth
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Auch der afrikanische Kontinent ist für säkulare Ideen wenig zugänglich. Das gilt sowohl für den muslimischen Norden als auch für die christliche Mitte und den Süden. Nach dem Ende der Kolonialzeit in den 60ern des 20. Jahrhunderts, also in den Blütejahren der Säkularisierung, kam es zu einer regelrechten Christianisierung von großen Teilen Afrikas. Um 1900 gehörten gerade mal 9 % der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. 2010 waren es 57 %. Der Islam wuchs im gleichen Zeitraum von 14 auf 29 %.11 Der Historiker, Afrika-Kenner und Priester Adrian Hastings bezeichnet die Jahre zwischen 1960 und 1999 als die Zeit, in der »das Christentum möglicherweise seine größte quantitative Ausbreitung erfahren hat«.12 Auch hier sind es vor allem die pfingstlich-charismatischen Kirchen, die eine entscheidende Rolle für das dynamische Wachstum des Christentums spielen. Interessant ist, dass in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Afrikas Intellektuelle eine gewisse Affinität für marxistisches Gedankengut und dessen Religionskritik hegten. Doch zum Ausgang des Jahrhunderts wandelte sich das Bild vollständig. An den Universitäten boomen die christlichen Studentengemeinden.13 Als ich 2012 eine große Gemeinde in Nairobi /Kenia besuchte, die auf dem Universitätscampus entstanden war, bekam ich einen lebendigen Eindruck von der Vitalität von Religion unter den Studenten. In den Städten Kenias fielen mir außerdem die vielen Kirchen und Gemeindezentren ins Auge, die fast an jeder Ecke und jedem Straßenzug zu finden sind.
Die USA gehören zu den wirtschaftlich-technologisch entwickeltsten Nationen der Erde. Trotzdem belegt das nordamerikanische Land in Sachen Religiosität Spitzenplätze. Trotz eines leichten Rückgangs der Kirchenmitgliedschaft und des Gottesdienstbesuches in den letzten Jahren erklären 2010 immer noch 59 %, dass ihnen Glaube sehr wichtig ist, und 62 % der Befragten, dass es einen Gott gibt. Über ein Drittel der Amerikaner besucht wöchentlich einen Gottesdienst.14 Der Religionswissenschaftler Michael Bergunder fasst es so zusammen: »Die hohen Werte bei der Erfragung von religiösen Überzeugungen und kirchlich-rituellen Praktiken zeigen, dass sich eine innere Säkularisierung empirisch nicht nachweisen lässt. Wenn sich Religion und Moderne nicht vertragen, müssten in den USA, der führenden Industrienation, besonders deutliche Säkularisierungstendenzen sichtbar werden. Dies ist aber nicht der Fall.«15 Allerdings deuten sich inzwischen auch in den USA Säkularisierungstendenzen an. Das ist für Religionssoziologen wie Detlef Pollack ein Indiz dafür, grundsätzlich an der Säkularisierungsthese, wenn auch in veränderter Form, festzuhalten. Wir gehen im nächsten Kapitel noch einmal auf die USA ein.
In diesem Kapitel haben wir uns mit der Fragestellung befasst, ob Säkularisierung ein globales Phänomen ist. Dabei haben wir den Fokus vor allem auf das Christentum gelegt. Das weltweite religiöse Erwachen aber kann man auch im Islam, Buddhismus, Hinduismus, in den Stammesreligionen, esoterischen und New-Age-Kulten etc. beobachten. Auch hier verhalten sich Modernisierung der Gesellschaft und Säkularisierung eher umgekehrt proportional. Das sind auch die Forschungsergebnisse der in Havard und Oxford lehrenden Politologin Monica Toft. In ihrem 2012 erschienenen Buch »God’s Century« kündigt die amerikanische Wissenschaftlerin die machtvolle Rückkehr von Religion in die Weltpolitik an. Gottes Jahrhundert ist angebrochen. Auch der Westen wird von diesem Trend erfasst werden. Sie benennt drei Faktoren, die für den Aufstieg von Religion verantwortlich sind: Modernisierung, Demokratisierung und Globalisierung. Das sind die gesellschaftsformierenden Kräfte, die gemäß der Säkularisierungsthese den umgekehrten Effekt haben müssten.16
2.2 GRÜNDE FÜR DAS WELTWEITE BOOMEN VON RELIGION
Mir begegnet bei vielen durchaus gescheiten Leuten eine unglaubliche Unkenntnis über das globale Erstarken von Religion. Das Phänomen, dass es weltweit ein religiöses Erwachen gibt, nimmt man in Deutschland höchstens beim Islam wahr. Das ist durch den weltweiten islamistischen Terror, der nun auch in Europa angekommen ist, unvermeidlich. Aber dass Religion allgemein und speziell auch das Christentum weltweit in einer atemberaubenden Dynamik an Bedeutung gewinnt, haben viele unserer europäischen Zeitgenossen noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Für sie ist die alte Säkularisierungsthese vom Rückgang der Religion mit dem Grad der Modernisierung eine gegebene Tatsache, die sie als unreflektierte Überzeugung verinnerlicht haben. Wenn sie aber mit der Realität einer weltweiten Renaissance von Religion in Berührung kommen, dann reiben sie sich verwundert die Augen und fragen nach den Gründen. Woran liegt es eigentlich, dass in globaler Perspektive Religion »in« ist? Was führt zu ihrem Erstarken? Welche Bedingungen machen Religion attraktiv? Die publizistische und religionssoziologische Landschaft zu diesem Thema ist reich und unübersichtlich. Hier soll versucht werden, die wichtigsten und vielleicht einleuchtendsten Gründe aufzuzeigen.
Enttäuschte Hoffnungen
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welche euphorischen Hoffnungen einst mit der Modernisierung der Gesellschaft verknüpft waren. Industrialisierung, Wissenschaft, Bildung, Demokratisierung und technologischer Fortschritt sollten endlich Armut, Aberglaube, Krankheit, Hunger, Abhängigkeit und Unterdrückung für immer beseitigen. Man erblickte schon die Morgendämmerung einer neuen Welt, in der der Mensch frei, gesund, gebildet, wohlhabend, selbstbestimmt und religionsfrei lebt. John Lennons »Imagine« von 1971 war die Hymne dieser Hoffnung: »Nothing to kill or die for. And no religion, too. Imagine no possessions. No need for greed or hunger. A brotherhood of man.«
Doch das 20. Jahrhundert als das Zeitalter, in dem neue säkulare Ideen das Antlitz der Erde positiv verändern sollten, ist gleichzeitig eine Epoche der grausamsten Szenarien, welche dieser Planet je gesehen hat: Kriege mit Millionen Toten, millionenfacher Massenmord an Völkern und Menschengruppen, brutalste Unterdrückung durch religionsfeindliche Weltanschauungen. Die Idee, dass eine religionsfreie Welt eine bessere sei, hat sich als tragische Illusion erwiesen. Der Publizist und Gründer des Politmagazins »Cicero« Wolfram Weimer nennt in seinem Büchlein »Credo« das Versagen säkularer Ideen als auslösenden Faktor für das Comeback von Religion in das Bewusstsein der Weltbevölkerung. »Das Europa des 20. Jahrhunderts hat die Welt gelehrt, dass ohne Gott die politischen Katastrophen noch teuflischer geworden sind.«17 »Die kulturelle und intellektuelle Pervertierung des Fortschrittsglaubens in entgöttlichten, radikal-diesseitigen Ideologien beendete, zunächst unbewusst, zunehmend dann auch reflektiert den Säkularisierungsprozess, weil dieser seine moralische Integrität verloren hatte.«18
Das Pendel schlägt vom Atheismus als destruktive Leitidee zurück zur Religion. Im intellektuellen Diskurs wird das Thema Religion wieder hoffähig. Jürgen Habermas – für viele der bedeutendste Philosoph der Gegenwart – schreibt, »dass einer zerknirschten Moderne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse verhelfen kann«19. Der atheistische Materialismus der säkularen Moderne ist ein zu enger Rahmen, um unsere komplexe und widersprüchliche Welt philosophisch zu beschreiben.
Religion als Motor für positive gesellschaftliche Transformationsprozesse
Die Rolle der Kirchen in der Vergangenheit war im Hinblick auf den Umgang mit Diktaturen, Menschenrechten, Rassismus, Sklaverei, Antisemitismus oft widersprüchlich, ja mitunter ausgesprochen problematisch. Das Sündenregister der christlichen Kirchen ist lang. Sie gerieten in den Ruf, Modernisierungsverweigerer zu sein, Diktaturen zu unterstützen, Antisemitismus zu fördern, Rassismus zu tolerieren und patriarchalische Herrschaftsformen zu stützen. Auch der deutsche Protestantismus trat in seiner dunkelsten Ära für rassistische Positionen und Praktiken ein.
Die katholische Kirche widersetzte sich lange