Das rote Meer. Clara Viebig
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Die Generalin hatte etwas Beruhigendes in der Stimme. „Es scheint rege Artillerietätigkeit. Aber die Infanterie greift bis jetzt nicht ein. Ich glaube, Sie können ganz ruhig sein.“ Ihre warme Hand legte sich auf die kalten nervösen Finger. „Liebste Frau, machen Sie sich doch keine unnützen Gedanken. Wir wollen uns die frohe Stunde nicht trüben. Sie bekommen sicher bald Nachricht.“
„Meinen Sie?“ Die kalten Finger zuckten. Aber dann rüttelte Hedwig sich, als schüttele sie etwas Quälendes von sich ab, es glitt ein Sonnenschein über ihr Gesicht. „Wie wird Rudolf sich freuen, wenn er seinen Jungen wiedersieht! Beim letzten Urlaub war der noch nicht viel mehr als ein kleines Tierchen: essen, trinken, schlafen. Wie hat er sich in den sechs Monaten entwickelt! Er ist schon ein Mensch, ein kleiner glücklicher Mensch. Er lacht den ganzen Tag, weint nie.“ — —
Unter der Linde standen sie jetzt alle zusammen um das Kind herum. Das zeigte, wie gross es war, machte ‚bitte, bitte‘ und spielte ‚Guckguck‘. Annemarie wollte es haschen, da verbarg es mit hellem Aufjubeln sein Köpfchen im Kleid der Grossmutter.
Am Zaun standen zwei Kinder. Sie lugten durch die Gitterstäbe, das Mädchen klemmte gleich den ganzen Kopf durch. „Du,“ sagte Minna Dombrowski zum Bruder, „da drinne is et scheene, wat?“ Ihre Augen leuchteten; sie hatte ganz dieselben dunklen dreisten Funkelaugen, wie ihre verstorbene Mutter, die hübsche Minka Dombrowski, sie gehabt hatte. „Ick wünschte, wir könnten dadrinne ooch mal spielen.“ Immer weiter streckte sie den Kopf vor, nun schlüpfte auch die Hand durch und bog die Zweige des verdeckenden Gebüsches zur Seite.
„Zaungäste!“ Alle blickten hin.
Au weh, da war ja auch die Frau von Voigt! Vor Schreck wagte Minna nicht, sich zurückzuziehen, obgleich der Bruder sie am Kleide zog. Den Kopf durchs Gitter gesteckt, versuchte sie zu knixen.
Die im Garten lachten. „Komm mal herein, Minna,“ sagte die Generalin freundlich.
Da ermannte sich die von Bewunderung und Respekt ganz Erstarrte: „Erich aber ooch!“
Nun standen die Kinder beide auf dem sonnenbeglänzten weissen Kies.
„Sie haben keine Schuhe an, auch keine Strümpfe,“ sagte Annemarie.
Minna sah nieder auf ihre nackten braunen Füsschen; es war ihr noch nie eingefallen, dass man Schuhe und Strümpfe anhaben könnte, ehe es Eis fror. Jetzt war sie verlegen.
Aber Erich sagte: „Schuhe sind zu teuer. Und Strümpe —? jiebt’s ja jar nich. Wenn Vater aus’m Krieg kommt, denn bringt er Leder for uns mit.“
„Sie haben keine Mutter mehr!“ Frau von Voigt legte dem Jungen die Hand auf den Kopf. „Nun, immer brav gewesen?“
Die Kinder zitterten: waren ihre Ohren auch sauber gewaschen? Oh, wenn die Müllern gewusst hätte, dass die Frau General sie sah, dann hätte Minna gewiss eine reine Schürze umbinden dürfen, und Erich hätte ein Taschentuch gekriegt. So musste er immerfort schnüffeln, wenn er nicht Talglichter ziehen wollte.
„Hast du kein Taschentuch?“ Annemarie lachte hell. „Da nimm mal!“ Der Junge stand rot übergossen; sie fuhr ihm mit ihrem duftenden Tüchelchen über die Nase.
Hedwig lächelte: das war doch eigentlich nett von der Schwiegertochter. Dann ging sie zum Teetisch, um den Kindern Kuchen zu holen.
Die staunten: Kuchen?! Den hatten sie nicht mehr gesehen, seit die Mutter tot war. Sie wurden zutraulich. „Komm, spielen,“ sagte Minna und griff nach Rudis Händchen. „Erich, fass du auch an!“ Sie nahmen den Kleinen in die Mitte. „Nu spielen wer im Kreis!“ Minna ordnete geschäftig; sie mussten sich alle anfassen und im Kreise drehen. Der kleine Rudi hob die Beinchen und krähte vor Vergnügen.
„Mariechen, warum weinest du,
weinest du, weinest du — —“
Die Kinder sangen aus Leibeskräften. Annemarie stand in der Mitte. Aber Minna war unzufrieden: „Nee, Sie müssen nich immerzu lachen, Sie müssen sich hinhucken un ’s Jesichte zuhalten, un janz schrecklich weinen.“
„Mariechen, warum weinest du,
weinest du, weinest du — —“
„Wenn ich aber doch nicht kann!“ Annemarie wollte sich totlachen.
„Na, denn:
‚Blauer, blauer Fingerhut,
Hätten wir Jeld, das wär’ wohl jut!‘“
Das hatte Annemarie auch in ihrer Kindheit gespielt, wenn vom Rhein her ein Wehen kam voll von Frische und Feuchte und Tang und Teer. Sie sang kräftig mit. Damals waren ihre langen Zöpfe geflogen, jetzt flatterten ihre duftigen Röcke. Immer rascher drehte sie sich. Minna war zufrieden.
Lili wurde mit fortgerissen; sie fühlte heut ihre Jugend. Heute lastete auf ihrem Herzen keine Bangigkeit, es schlug so hoch, so voll, und rascher in einem Rhythmus stolzester Freude. Sie hob die Füsse geschwinder, höher, sie drehte sich im Wirbel, wie ein Taumel erfasste es sie. Es war ihr, als tanze sie einen Siegestanz: ihm, ihrem Helden zu Ehren.
Sie waren alle fröhlich. Sie hatten es gar nicht acht, dass die Gartentür klinkte. Eine Depeschenbotin ging ins Haus.
Während sie sich draussen noch drehten im harmlosen Singsang, stand Herr Bertholdi an seinem Schreibtisch. Schwer stützte er sich mit beiden Händen auf die Platte. Er hatte eben eine Depesche empfangen. Er hatte sie gelesen.
‚Leutnant Rudolf Bertholdi gestern Brustschuss. Soeben entschlafen.‘ —
Was da noch stand vom ‚Heldentod fürs Vaterland‘, vom ‚Kreuz Erster noch erhalten‘, von ‚aufrichtiger Teilnahme‘, vom ‚Andenken in Ehren‘, das las er nicht mehr. Tot, Rudolf tot! Mit einer verzweifelten Gebärde fasste der Mann sich in das ergraute Haar: wie sollte er’s ihr sagen? Wie es ihr schonend mitteilen? Ihr Jüngster, ihr Liebster! Ein ‚Schonend-mitteilen‘ gab es nicht — — tot, tot! Ihr Rudolf, ihr geliebtestes Kind — arme Hedwig, arme Mutter!
Draussen sangen sie: ‚Blauer, blauer Fingerhut!‘
Wie Bertholdi es ihr gesagt hatte, das wusste er nicht. Er hatte lange gestanden und ratlos vor sich hingestiert, dann nach dem Mädchen geklingelt. „Rufen Sie meine Frau zu mir.“
Was hatte der Herr? In des Mädchens frischem Gesicht erstarb plötzlich das Rot. Wie sah der Herr aus, da war etwas nicht in Ordnung! Eine Depesche war gekommen — sicher nichts Gutes — am Ende war Herrn Heinz etwas passiert! An den Jüngeren dachte die Emilie nicht, aller Gedanken hingen ja an dem Flieger. Als sie noch stand und ihn fragend anblickte, wiederholte Bertholdi ungeduldig: „Meine Frau, meine Frau!“ —
Am Schreibtisch standen sie sich gegenüber. Hedwigs Brust atmete rasch, noch waren ihre Wangen rot, sie hatte sich nicht wehren können, die Jugend hatte sie mit in ihren Kreis gezogen. Die Haare hatten sich ihr gelöst, an den Schläfen ringelten ein paar Löckchen, sie sah gar nicht aus wie die Mutter von erwachsenen Söhnen.
Bertholdi sah das alles, sah es heute mit einem schnellen, merkwürdig schnellen Blick — da stand sie vor ihm, wieder ganz