Das rote Meer. Clara Viebig
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Mit einem Seufzer sah die Generalin zu den Bildern hinüber. Dann las sie:
‚Die letzte Jahreswende im Krieg.‘
Schon stutzte sie: war es wirklich die letzte Jahreswende? Wer bürgte dafür? Der Kaiser? Die Heeresleitung? Der Reichskanzler? Die Minister? Immer neue Männer, neue Namen. Nie war so viel gewechselt worden in den höchsten Ämtern. Unruhig sahen die klugen Augen der Frau umher: fand sich denn nicht endlich der rechte Mann? Der Eine, der Einzige? Ihr Geist liess sie alle an sich vorüberziehen. Die anderen, die Feinde, hatten doch den Einen, den Einzigen, der ihr Schicksal lenkte — mochte sein zum Guten oder zum Bösen — es war eine Hand da, die am Steuer lag und das unentwegt festhielt. Haben wir denn keinen solchen Einen, Einzigen?
Sie zwang sich, weiter zu lesen:
‚Der zahlenmässig stärkste unserer Feinde hat die Folgerungen der Kriegslage gezogen. Das Scheitern der englischen Angriffe in Flandern und der Zusammenbruch Italiens musste die Russen vollends überzeugen, dass sie nicht darauf rechnen konnten, die eigene Niederlage durch den Sieg ihrer Verbündeten auszugleichen. Noch sind wir nicht auf der Höhe, noch ist der Trotz der Engländer, der Hass der Franzosen, die Überhebung der Amerikaner ungebrochen, aber wir sehen schon den Gipfel im Sonnenglanz des Friedens strahlen. Die letzten hundert Meter sollen uns nicht schrecken. Das schwere Gepäck auf dem Rücken, den schmalen Proviant im Beutel, aber das Herz gesund, den Blick klar auf den Führer gerichtet, der den rechten Weg weiss, so überwinden wir auch sie noch.‘
Werden wir?! Wie in plötzlicher Erkenntnis schreckte die Lesende zusammen. War denn das Herz gesund, der Blick klar? Wusste der Führer denn auch den rechten Weg? Mit einem verstörten Blick starrte Hermine von Voigt vor sich hin. Was hatte sie nicht alles sprechen hören! Selbst in den Kreisen, die früher voller Patriotismus waren. Waren das noch die Väter, die im Jahr vierzehn ihre Söhne selber zu den Waffen getrieben, die Mütter, die klaglos sie zum Opfer gebracht hatten? Waren das noch die gleichen Männer, die, längst aus der Übung und nicht mehr jung, sich doch in Reih und Glied gestellt hatten? Nicht die Ermüdung durch die lange Dauer des Krieges allein war es, die sie heute so anders gemacht hatte.
Die Frau sprang auf, wie von Angst gejagt eilte sie durch die Zimmer. Vom Wohnzimmer ins Esszimmer, von dort ins Arbeitszimmer ihres Mannes; da stand sie an seinem Schreibtisch und stützte beide Hände schwer auf. Es war ihr, als ströme von dem Platz, an dem er so oft gesessen hatte, etwas auf sie über. Gott sei Dank, er war nie verdrossen, nie kleinmütig!
Vom Osten war General von Voigt fort, es war dort kaum mehr zu tun. Russland trug sich selber zu Grabe, es frass seine Länder, seine Städte, seine Völker auf. Die Revolution war da. Russe gegen Russe, Bruder gegen Bruder, der Untergebene gegen den Vorgesetzten. Aus den Gräben waren sie gelaufen gekommen, hatten die Hände erhoben, hinüber zum deutschen Graben gewinkt: ‚Komm, komm, gut Freund!‘ Hatten Brot mit dem deutschen Landstürmer getauscht, hatten aus einer Flasche Wodki mit ihm getrunken: ‚Gesundheit! Du sollst leben! Warum Feindschaft miteinander, ich bin Mensch, du bist Mensch, unsern Acker wollen wir bauen, Gottes Sonne sehen, nicht im dunklen Graben sitzen. Russland ist gross, Väterchen ist weit, wir wollen nicht länger schiessen mehr.‘ Und sie hatten ihre Tornister hingeschmissen, ihre Flinten — wie Kinder, die hinter die Schule laufen — und hatten den, der sie antreiben wollte so wie einst mit der Knute, gutmütig grinsend zu Boden geschlagen. Nein, Russland war nicht mehr zu fürchten, und doch — wenn das Feuer nun um sich frass? Über die Steppen, über die Brachen, über die flachen Grenzen fegte der Wind, Funken trieb er vor sich her. Die sind gefährlicher als lodernde Flammen, denn unbemerkt kommen sie. Sie fallen aufs Hüttendach, sie nisten sich ein im Stroh; ehe man ihrer recht gewahr wird, lodert die Flamme schon im Nachbarhaus.
Eine heisse Röte stieg der Frau ins Gesicht. Nur keine Angst! Ihre hohe Gestalt richtete sich energisch auf. Nicht verzagen — vom Verzagen ist nur ein Schritt zum Versagen. Verzagte denn ihr Mann? Er hatte es schwer im Westen. Nein, er blieb immer derselbe. Doch konnte man die gleiche Ruhe, die gleiche Unerschütterlichkeit, die gleiche Geduld von denen hier verlangen, die wie Lasttiere ihre Tage hinschleppten, neben der Sorge um das Leben des Mannes gepeinigt wurden von den tausend Nadelstichen der Angst: wovon satt werden? Das Leben war so entsetzlich teuer, wurde es mit jedem Tag mehr. Auch kein Schuh mehr zu bekommen, kein Strumpf, kein wollenes Kleid. Und hatte der, der sich um des Lebens Notdurft nicht in gleich schwerer Weise abängstigen musste, es nicht doch ebenso schwer, vielleicht noch schwerer? Ihm gehen nicht alle Gedanken unter in der Sorge ums tägliche Brot, ihm bleiben noch der Gedanken übrig — ach, zu viele! Die Hände der Frau schlangen sich ineinander.
Horch, die Glocken! Wie sonst an jedem Wochenende den Sonntag, so läuteten sie heute abend den morgenden Neujahrstag ein. Ein dünnes, erbärmliches Gebimmel. Die grosse, feierliche Glocke, die alles übertönende erzene Stimme, wo war sie?! Herminens Augen füllten sich mit Tränen, sie fühlte sich plötzlich hilflos und verlassen.
Das Mädchen kam herein. „Verzeihen Exzellenz! ’s ist ’n Mann draussen in der Küche, er muss Frau Generalin durchaus einmal selber sprechen.“ — —
In der Küche stand ein Mann. Er tat ganz vertraut, obgleich er noch nie in dieser Küche gestanden hatte. Er war in Feldgrau, er sah sehr respektabel und ordentlich aus. „Sie haben doch schon öfter Butter von mir gekauft,“ sagte er zwinkernd.
„Butter —? Dass ich nicht wüsste. Die habe ich lange nicht gegessen.“ Die Generalin sah ihn von oben herab an. Ihre Stimme klang abweisend.
Der Mann lachte verständnisvoll. „Verzeihen die Dame, schön dumm! ‚Hinten herum, nee, is nich,‘ so sagen sie alle anfangs. Und nachher kaufen sie doch alle. Gnädige Dame, was sollen die Leute denn auch machen? Von dem, was es auf Karten gibt, kann doch kein Mensch existieren.“
„Ich kaufe nichts hinten herum. Andere leben auch davon.“
„Kann sein.“ Der Schieber zog die Achseln hoch. „Ich leiste aber keinen Eid drauf. Sie würden sich schön wundern, Gnädigste, wer alles bei mir kauft. Wenn die Leute selber alles befolgen sollten, was sie verfügen — na! Und nich nur die Herrschaften kaufen, nee, ganz einfache Leute, Sie sehen’s denen gar nicht an, was die draufgehen lassen.“
„Das ’s auch wahr,“ fiel die Köchin ein. Sie stand mit unzufriedener Miene: warum kaufte die Gnädige denn nun nicht? Es war wahrhaftig nicht üppig, was immer auf den Tisch kam. Und jetzt war’s dunkel, keiner sah’s. Wenn die Gnädige heute nichts kaufte, dann kündigte sie bestimmt morgen, sie hatte es nun satt.
„Bei unserm Flickschuster haben sie morgen Schweinebraten,“ sagte sie vorwurfsvoll, „und unten bei Portiers — na, gehn Exzellenz nur mal runter und riechen, die haben heut abend ’was Feines!“
„Wie ist es heut mit ’ner schönen Gans — genudelt — mindestens fünf Pfund Fett, ich garantiere. Und ’ne Leber — Stopfleber — allein ’n Mittagessen!“ Mit triumphierender Miene zog der Händler eine Gans aus