Das rote Meer. Clara Viebig
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Es musste etwas Seltsames im Ton seiner Stimme mitgeklungen haben, ihr eben noch heller Blick trübte sich, die Farbe schwand aus ihrem Gesicht, sie schien um Jahre älter mit einem Mal. „Was ist?“ Eine jäh aufgeschreckte Unruhe war in ihrer Frage. Und da wusste sie’s auch schon. Sie sah auf dem Tisch das Depeschenblatt, sie sah das Zucken um den Mund ihres Mannes, die Tränen in seinen Augen, und mit einem Ächzen stiess sie heraus: „Heinz!“
„Nein!“
Sie hob das erblasste Gesicht, mit einem wirren, entsetzten Ausdruck starrte sie ihren Mann an, dann schrie sie gellend auf: „Rudolf?!“
Er nickte stumm. Er konnte nicht sprechen.
Sie aber sprach. In wirren, wilden, sich überhastenden Sätzen. Sie hatte das Telegramm an sich gerissen, gelesen. Ach, diese paar kurzen knappen Zeilen, so wenig Worte um ein so geliebtes Leben! Sie knüllte die Depesche zusammen, warf sie zu Boden, hob sie dann wieder auf, glättete sie mit zitternden Fingern, las wieder und wieder.
„Rudolf, mein Rudolf! Weisst du noch, wie er sagte: ‚Ich möchte wohl wissen, was wird, wenn der Krieg zu Ende ist, ich habe Angst davor‘ — nun braucht er keine Angst mehr zu haben — tot!“ Sie schrie in namenlosem Jammer. „Ich bitte dich —“ sie hob die gefalteten Hände gegen ihren Mann, riss sie dann wieder auseinander und umklammerte seinen Arm — „du musst ihn holen — wir wollen ihn herholen — ich will ihn hier haben — hier — bei mir — meinen Rudolf, meinen Jungen!“
Die Frau des Sohnes war ganz vergessen; an sie dachten die Eltern noch nicht. Die Mutter war auf einen Stuhl gesunken, zusammengekrümmt sass sie. Tief, tief neigte sie das Gesicht, bis es fast auf ihren Knien lag. Hinter den vorgepressten Händen wimmerte sie, der Mann konnte es kaum ertragen.
Machtlos, hilflos stand er bei seiner Frau, fast verging ihm der eigene Jammer vor ihrem Jammer. Ach, er hatte ja gewusst, wie sie das treffen würde. Er wagte es, seine Hand auf ihr Haar zu legen.
Sie schrie wild auf: „Was hat er verbrochen? Tausende gehen in den Krieg und kommen wieder. Warum er, gerade er? Was habe ich verbrochen?!“ Sie hob den Kopf und starrte ihn mit funkelnden Augen an. Er hatte gerade etwas von Gott gesagt.
Sie lachte schrill auf: „Gott?! Der schläft. Oder es gibt überhaupt keinen. Gäbe es einen, dann wäre dieser Krieg nicht!“ Sie riss die Hände vom Gesicht und ballte sie zu Fäusten: „Fluch über die, die diesen Krieg über uns gebracht haben — Fluch über sie alle, alle! Fürs Vaterland gefallen — Vaterland, was ist mir das?! Rudolf, mein Sohn, mein lieber, lieber Junge!“ Sie steigerte sich immer mehr: „Meinen Sohn, gebt mir meinen Sohn wieder!“
War das Hedwig, seine sanfte Frau? Bertholdis Augen blickten in starrem Staunen. Nun sah er zum ersten Mal die Frau, wie sie wirklich war; nicht mehr seine Frau, mit der er fast ein Vierteljahrhundert Seite an Seite gelebt hatte Tag und Nacht. Diese Frau war nur Mutter; und der Sohn, der gefallen war, war ihr einziger Sohn. In seine Erschütterung mischte sich Vorwurf: „Du hast doch noch einen Sohn!“
Sie schrie immer weiter: „Rudolf, Rudolf!“
„Versündige dich nicht.“ Sein schwankender Ton wurde fest, seine Hand lag schwer auf ihrer Schulter. Sie hatte aufspringen wollen, er drückte sie wieder nieder. „Da sind viele, die den Einzigen hingaben. Tausende. In deiner nächsten Nähe. Denk an die Krüger. Du hast doch noch Heinz, deinen Ältesten. Und Rudolfs Sohn, sein liebes Kind. Und —“ er wollte sagen: ‚und mich‘. Aber er sagte es nicht. Wenn sie es denn nicht fühlte!
Doch, als hätte er’s laut ausgesprochen, so sah sie ihn nun an. Jetzt sah sie ihn. Nicht mehr fern wie durch einen Nebel, nein, dicht vor sich, nahe bei sich; sah sein tiefbekümmertes gutes Gesicht. Mit einem schmerzvollen: „Vergib mir,“ griff sie nach seiner Hand.
Er umfasste sie, beugte sich nieder und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie fühlte den Schlag seines Herzens. Immer wieder strich seine Hand zart und zärtlich über ihr verwirrtes Haar.
Ihr Weinen wurde leiser. Was er alles auf sie niederflüsterte, seinen Kopf auf den ihren geneigt, das hörte niemand.
Es war ein grosses Schweigen im Zimmer. Auch die Frau hörte nicht Worte; über des Mannes Lippen kam kein Laut, und doch hörte sie viel, viel. Ihr Herz, das das seine oftmals nicht vernommen hatte, das hörte jetzt. Und verstand.
III
Sie hatten Rudolf heimbekommen. Seine junge Frau ging nun in Schwarz; ihr Witwenschleier wehte lang, auf dem vollen Haar sass der Schnebbenhut mit dem weissen Vorstoss. Annemaries rundes Gesicht war schmaler geworden; erst hatte sie kaum essen mögen, überhaupt nichts sehen noch hören wollen. So jung noch und schon Witwe! Sie hatte ganz vergessen, was sie und Rudolf in ihrer ersten Verliebtheit sich anscheinend völlig klar gemacht hatten, was sie ihrer Mutter auf deren banges: ‚Wenn er nun fällt?‘ geantwortet hatte: „Wenn ich ihn nur habe, nur ein einziges Jahr!“ So schwer hatte sie sich das Witwesein doch nicht gedacht. Das Leben schien auf einmal aus.
Aber nun waren die ersten schwersten Wochen überstanden. Noch führte ihr täglicher Spaziergang zum Kirchhof. Es trieben schon vereinzelte gelbe Blätter über den Hügel, den man, bevor ein Grabstein gesetzt werden konnte, mit einem Kreuz aus Holz goziert, mit Tannenreisig gedeckt und mit immer neuen frischen Blumen umstellt hatte. Sie fand ein gewisses Genügen daran, da zu ordnen und zu schmücken. „Da liegt dein armer Papa,“ sagte sie zu dem kleinen Jungen, der sie nicht verstand und ungeduldig an ihrer Hand zappelte.
„Warst du auch so lange unglücklich?“ fragte Annemarie ihre Freundin Lili.
Lili errötete und dann erblasste sie. War sie wirklich lange unglücklich gewesen? Lange genug? Das quälte sie. Auf Stunden, in denen sie voll liebender Sehnsucht an Heinz dachte, in denen ihr Herz in einer seligen Glückshoffnung klopfte, folgten andere Stunden. War sie nicht auch selig gewesen an dem Tage, der sie mit jenem anderen — ihrem ersten Mann — vereinigte? Sie hatte geglaubt, ihn für immer zu lieben — und nun? Nein, Heinz sollte noch nicht fragen, er durfte noch nicht fragen! Noch nicht. Wenn er fragte, was sollte sie antworten? Es war etwas in ihr wie heisses Begehren und zugleich wie verzweifelte Abwehr. Noch immer war es zu früh, es durfte noch immer nicht sein.
Zur Beisetzung seines Bruders war Heinz Bertholdi gekommen, aber nur für den einen Tag. Es war fast so, als hätten sie sich nicht gesehen. Sie standen sich am Sarge gegenüber, tief erschüttert. Wäre es nicht Roheit gewesen, an eigenes Glück zu denken? Er blickte mit einem steinernen Gesicht vor sich hin, die Augen immer starr auf die Erde gerichtet, vor ihm schluchzte die junge Witwe am Arm des Schwiegervaters, auf seinen Arm stützte sich die arme Mutter. Lili hatte gar nicht gewagt, zu ihm hinzusehen, beharrlich blieben ihre Lider gesenkt. Nur als sie herantrat, um in die offene Gruft ihre drei Handvoll Erde zu streuen, noch immer mit gesenkten Lidern, fühlte sie es plötzlich: sie stand hinter ihm. Er wandte sich, trat zur Seite, liess sie heran. Und da sahen sie sich an. Rasch, wie verstohlen. In seinem Blick war bei allem Leid das Aufleuchten des Glücks, sie zu sehen, und eine innige Bitte. Er hatte sich dann über ihre Hand gebeugt, sie geküsst. Ob sie etwas gemurmelt hatte von Beileid, von innigstem Mitgefühl, das wusste sie nicht. Gesprochen hatte sie ihn nicht mehr; am Morgen war er gekommen, am Abend war er schon wieder fort. Sie war zurückgeblieben mit dem peinigenden Gefühl: was hast du versäumt! Und doch mit der Gewissheit: du konntest nicht anders.
Der Tod Rudolf Bertholdis hatte Lili tief erschüttert. Alles, was sie überwunden gewähnt, lebte wieder auf. Von dem kalten Entsetzen, das sie gelähmt, als die Trauerbotschaft eingetroffen, mitten im lustigen Spiel, blieb ihr ein Rest. Es kamen Stunden, die alle Gedanken an Glück wegfegten. Tot,