Das rote Meer. Clara Viebig

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Das rote Meer - Clara Viebig

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Kopf zum Gruss und ging. —

      Eine seltsame Frau! Warum lag in ihren Augen diese namenlose Trauer? Hedwig hatte in keines Menschen Auge je eine ähnliche gesehen. Aber wenn ihr Sohn doch noch lebte?! An diesem Tag beschäftigten sich Hedwigs Gedanken mit der Fremden.

      Ganz erstaunt sah Bertholdi beim Mittagessen von seinem Teller auf: wie, seine Frau dachte einmal an etwas anderes als an den eigenen Schmerz?

      Sie sagte: „Ich habe heut eine Dame getroffen, als ich vom Kirchhof kam, an die muss ich immerfort denken. Sie hat ihren Mann verloren“ — leise legte sie dabei ihre Hand auf die seine — „aber, weisst du, das allein kann es nicht sein. Ihr Sohn ist ja nicht tot.“

      Zu anderen Zeiten hätte es Bertholdi vielleicht verletzt, dass seine Frau den Verlust des Mannes scheinbar weniger einschätzte als den des Sohnes; jetzt verstand er richtig: man leidet unter einer begrabenen Hoffnung — und was ist ein Sohn anderes als eine Hoffnung? — schwerer als unter dem Verlust gewesenen Glücks.

      Als sie am Abend in ihren Betten lagen und er sich über sie beugte, um ihr den gewohnten Gutenachtkuss zu geben, sagte sie wie aus tiefem Nachdenken heraus: „Ich möchte wohl wissen, wer diese Frau ist.“

      In dieser Nacht träumte Hedwig Bertholdi von ihrer Begegnung. Sonst hatte sie, wenn sie überhaupt schlief, nur wirre Träume — Blut, Grauen, Stöhnen, chaotischen Jammer, aus dem sie nichts herausschälen konnte, was irgendwie Sinn hatte und am Morgen noch als Erinnerung verblieb — heute nacht neigte sich die Fremde über sie. Die dunklen Augen blickten tief in die ihren: „Warum weinst du?“ — ‚Mariechen, warum weinest du, weinest du?‘ so hatten die Kinder gesungen an dem Nachmittag, an dem die Depesche von Rudolfs Tod kam.

      „Warum weinst du?“

      „Weil ich meinen Sohn, meinen Liebling verloren habe.“

      „Du hast ihn nicht verloren, er ist noch dein. Er schläft nur. Hundert glückliche Erinnerungen verbinden dich mit ihm. Da ist nichts, was dich von ihm trennt. Deine noch lebendige Seele gleitet seiner abgeschiedenen zu, sie umschlingen sich. Glückliche Mutter, eine glückliche Mutter bist du!“

      Die Fremde hob in beneidender Sehnsucht die Hände, es liefen Tränen aus den Augen, in die es sich hineinsah wie in eine unergründliche Nacht.

      Glücklich, glücklich, — es gab also andere, die noch unglücklicher waren als sie? Verwundert sah Hedwig um sich, als sie am Morgen erwachte. Der Traum war ihr ganz lebendig. „Ich habe von der Frau geträumt,“ sagte sie zu ihrem Mann. „Merkwürdig. Und so eindringlich!“

      Bertholdi sah seine Frau liebevoll an: Gott sei Dank, dass sie doch wieder an irgend etwas Anteil nahm!

      „Du hast gut geschlafen.“

      „Ja, und ich glaubte, ich würde gar nicht schlafen können. Ob ich sie wohl einmal wiedersehe? Wie gut, dass wir nicht in Berlin wohnen, da würde ich ihr wohl kaum wieder begegnen.“ —

      Sie begegneten sich schon an einem der folgenden Tage, sie hatten ja beide das gemeinsame Ziel — den Kirchhof. Und dann gingen sie hintereinander her, durch die lange Reihe neuentstandener Gräber. Viele Gräber; es starben jetzt nicht bloss die Starken draussen, die Schwachen fielen auch hier. Wie auf geheime Verabredung trafen sie sich an der Kirchhofspforte. Ihre schwarzen Gestalten grüssten sich stumm. Am nächsten Tage schon gingen sie miteinander die Strecke durch die Anlagen, bis ihre Wege sich trennten. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen und nichts von Belang. Aber als Hedwig der schlanken Gestalt nachsah, und diese sich dann noch einmal wandte und stumm nach ihr zurückgrüsste, hatte sie das Gefühl einer wachsenden Sympathie.

      Auf dem Grabstein des vor einem halben Jahre verstorbenen Justizrats Kettler stand: Geboren 1860, gestorben 1917. Noch kein alter Mann. Vor kurzer Zeit erst war er aus seinem Amt in Berlin geschieden. Ruhe, Ruhe, danach sehnte er sich, sehnten sie sich beide; so waren sie hier herausgezogen. Und hier hatte ihn die Frau nach wenigen Monaten begraben.

      „An was starb Ihr armer Mann?“ wagte Hedwig eines Tages die Witwe zu fragen.

      „Armer Mann! Ja, da haben Sie recht: armer Mann!“ Es klang unsäglich bitter. „Er starb an einem Herzleiden.“

      Hedwig mochte nicht weiter fragen, es legte sich ein Zug von Leid um den Mund der anderen, der sie erschreckte. Der Sohn, der Sohn, warum sprach die Mutter nicht von ihrem Sohn?! War der verwundet? Gefangen? Er lebte, das wusste sie. Und doch sprach die Mutter nie ein Wort von ihm. — —

      Hedwig war auf dem Weg zu der neuen Bekannten. Sie hatte am Vormittag einen Brief von Frau Kettler bekommen, worin diese sie um ihren Besuch bat. Als Hedwig vor der Tür der hübschen Villa stand, drängte es sich ihr plötzlich auf, dass das Haus tot sei, unwirtlich, öde, trotz der peinlichen Sauberkeit des geharkten Grasplatzes, trotz der frischgrünen Tannenbäumchen an den Fenstern und auf dem Balkon. Wie anders sah dagegen ihr eigenes Haus aus! Allem Schmerz, der in ihm wohnte, zum Trotz blinkten die Fenster hell, lag eine einladende Traulichkeit schon draussen vor der Tür.

      Das Mädchen, das auf leisen Sohlen ging, wies Hedwig in ein grosses, ein wenig verdunkeltes Zimmer.

      Helene Kettler stand vom Ruhebett auf, sie hatte da gelegen, den Kopf zur Wand gekehrt. Nun glitt ein Schimmer von Lächeln über ihr vergrämtes Gesicht, sie streckte Hedwig beide Hände entgegen, und wie erlöst von der Qual der Einsamkeit, seufzte sie auf: „Gott sei Dank, dass Sie kommen!“ Und hastig fuhr sie fort, als peitsche es sie innerlich, zu sprechen: „Verzeihen Sie, dass ich Sie rief, ich hoffe, Sie versäumen nichts Wichtiges, ich bin so allein, ich bin so grausam allein, dieser nahende Frühling mit seiner scharfen Sonne macht mich krank, ich sitze lieber im Dunkeln, ich —“ sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die dunklen Augen irrten umher, als erwartete sie aus jedem Winkel Schrecknisse auftauchen zu sehen.

      „Was ist Ihnen?“ Von einem grossen Mitgefühl fortgerissen, legte Hedwig ihren Arm um die Erblasste. „Kann ich Ihnen helfen? Ich möchte so gern. Sprechen Sie doch!“

      Da liess die einsame Frau den Kopf auf die Schulter der anderen sinken und weinte.

      Wem es gegeben ist, sein Leid auszusprechen, der ist schon ein Halbbefreiter; Helene Kettler hatte es nie gekonnt, heute, hier hatte sie das Gefühl: das ist eine Mutter wie du. Sie fühlte das Band, das sich von einer Mutter zur anderen schlingt. Sie schluchzte: „Ich habe meinen Sohn verloren. Meinen einzigen Sohn.“

      Wie, jetzt plötzlich? Fast atemlos fragte Hedwig: „Wann? Wo? Tot?!“ Sie zitterte, von Mitleid erfasst.

      Die Weinende schüttelte den Kopf: „Tot ist er nicht. Und doch tot. Sehen Sie!“ Hastig zog sie Hedwig zum Schreibtisch, hastig schloss sie das Schubfach auf, hastig nahm sie ein Bild heraus. Mehrere Bilder: als kleines Kind, als Knabe, als Erwachsener.

      Hedwig sah gute, weiche Kinderwangen, ein lustiges Knabengesicht und dann einen hübschen, eleganten jungen Mann — aber gut sah der nicht mehr aus.

      „Fünfundzwanzig Jahre — fünfundzwanzig Jahre ist er nun — ein Tag wie heute, als er geboren wurde, wir freuten uns. Oh, hätten wir uns nie so gefreut! Wir glaubten ihm immer, wir haben ihn zu sehr geliebt, er war so frisch, so aufgeweckt, wir haben ihn zu sehr verwöhnt. Weiber, Schulden — mein Mann hat immer wieder gutgemacht.“ Die Mutter rang die Hände, es war eine unterdrückte Leidenschaft in ihrer Stimme, in jeder ihrer Bewegungen. „Glauben Sie, dass es möglich ist, dass man einen Sohn, zu dem man kein Vertrauen mehr haben kann, der mehr Kummer gemacht hat als hundert andere Söhne zusammen, auf den man nicht mehr hoffen kann, dass man so einen Sohn doch noch lieben

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