Die Witwe des Millionärs. Laura Lippman
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Читать онлайн книгу Die Witwe des Millionärs - Laura Lippman страница 16
Amnesie, dachte sich Tess. Leitende Redakteure vergaßen ziemlich schnell, was sie von Reporterarbeit verstanden. Wenn ein Mann namens Smith mit seinem Laster in ein Restaurant fuhr und dabei fünf Leute umbrachte, verstanden leitende Redakteure nicht wirklich, wieso man den Kerl nicht anrief und nach allen Details fragte. »Seine Nummer steht doch bestimmt im Telefonbuch«, sagten sie, als gäbe es nur einen Smith und als wäre er nicht im Gefängnis, wo es kein Telefon gab. Und wenn man wie durch irgendein Wunder tatsächlich diesen Smith fand und die ganze Story anschleppte, sagten Redakteure: »Ja, dafür bezahlen wir dich auch.« Oder: »Morgen ist voll, das muss warten.«
Und jetzt musste sich Tess drei von diesen gedankenlosen Monstern zugleich stellen, und dazu noch dem Herausgeber. Dem Executive Editor, dem Managing Editor und dem Deputy Managing Editor.
»Gleich drei leitende Redakteure«, sagte sie laut und schaute zum Fenster raus gen Norden. »Na ja, Herkules hat ja auch die Hydra besiegt.«
»Und die hatte neun Köpfe.«
Ein Mann war hinter ihr in den Saal gekommen, ein Mann mit rosa Wangen und braun schimmerndem Haar, das ihm in die Augen fiel. In Bluejeans und T-Shirt wäre er für 25 durchgegangen. In seiner grauen Wollhose, mit dem roten Schlips und dem blau-weiß gestreiften Oxford-Hemd sah er mehr wie 45 aus. Aber wie niedliche 45, fand Tess und betrachtete seine muskulösen Unterarme, das breite Grinsen, die jungenhafte Art, mit der er sich das Haar aus den Augen strich.
»Jack Sterling«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich bin der Deputy Managing Editor.«
»Tess Monaghan.« Aus Gewohnheit packte sie seine Hand fest, so wie sie Rositas gedrückt hatte, als sie einander kennenlernten. Aber Jack Sterling drückte noch fester zurück. Nervös ließ sie los, sie verspürte ein Gefühl, das sie im Grunde gar nicht benennen wollte.
Er setzte sich auf die Kante des polierten Tisches. Er betrachtete sie ganz offen, ließ seine rechte Hand kreisen und massierte mit der linken das Handgelenk.
»Baltimore-Gewächs«, sagte er und sprach zu sich, als stünde sie auf der anderen Seite eines Einwegspiegels. »Aber mit irgendetwas gemischt. Etwas Solides, gute Landgene. Vielleicht 27 oder 28 Jahre alt. Sportlich. Mag weder Strumpfhosen noch Diätgetränke. Hab ich recht?«
»Aus dem Mittleren Westen«, entgegnete sie. Und fuhr fort: »Protestantischer Maisbauernjunge, einstmals Wunderkind, immer noch Wunder, aber nicht länger Kind. Spielt wahrscheinlich Rackettball – er dehnt die Gelenke und reibt sich die Unterarme, wenn er spricht, so wie es Sportler machen. Hab ich recht?«
Sterling lachte. Gut, er hatte Humor. »Nicht schlecht. Das Spiel ist Squash, wenn mein Rücken mitmacht, und mein Handgelenk tut weh, weil 22 Jahre in diesem Geschäft mir ein chronisches Karpaltunnel-Syndrom eingetragen haben.«
Wieder massierte er sein Handgelenk, dann ließ er die Hand plötzlich sinken, als hätte er jetzt erst bemerkt, was er da tat. »Mittlerer Westen? Ja, Oak Park, Illinois, ist wohl so sehr Mittlerer Westen, wie es nur geht. Wie sind Sie darauf gekommen? Ich dachte, ich hätte mir in den letzten paar Jahren ein bisschen Ostküstenschmiss zugelegt.«
Tess lächelte unverbindlich. Whitney hatte ihr grobe Umrisse derjenigen vermittelt, die sie heute treffen würde, aber sie hatte keinen Grund, das preiszugeben. »Baltimore ist nicht unbedingt die Stadt, in der es besonders schmissig zugeht. Wenn Sie nicht aufpassen, dann haben Sie beim Sprechen bald auch ein R in Worten wie Wasser und waschen.«
Jack Sterling beugte sich zu ihr hin. Seine Augen waren noch blauer als die Streifen auf seinem Hemd. »Wie geht es in Baltimore denn zu?«
Bevor ihr eine kluge Antwort einfiel, kamen die anderen Chefs in den Saal. Ein bisschen schuldbewusst, als wäre er dabei erwischt worden, sich mit dem Feind zu solidarisieren, nahm Sterling zwischen ihnen Platz.
Die vier sahen einander ähnlicher, als sie wussten. Alle weiß. Keiner jünger als 35 oder älter als 60. Zwei Anzüge – graue Nadelstreifen an dem kleinsten Mann, offenbar dem Herausgeber Randall Pfieffer IV., und ein grelles Türkis an der einzigen Frau, Managing Editor Colleen Reganhart, die über jene Kombination aus dunklem Haar, heller Haut und wässrigen Augen verfügte, die man auf der Monaghan-Seite von Tess’ Familie schwärzestes Irisch nannte.
Der letzte Mann war ebenso angezogen wie Sterling, aber sein blau gestreiftes Hemd war ein wenig besser gearbeitet, sein roter Schlips schwerer und seidiger.
»Lionel C. Mabry«, sagte er, und er streckte Tess eine schlaffe Hand hin. Natürlich, die Haare. Wie hatte sie die Haare übersehen können? Die Haare waren dünner, als Tess sich vorgestellt hatte, und Whitney war ungewöhnlich taktvoll gewesen, sie als blond zu beschreiben, aber es war tatsächlich eine Mähne. Mabrys Haar war grau-gelb, wie verdünnte Pisse. Davon abgesehen hielt er sich gut, er hatte etwas Patrizierhaftes an sich. Aber alles an ihm war irgendwie ein wenig mürbe – er murmelte, seine braunen Augen wirkten abwesend, sein Händedruck war schlapp.
»Setz dich, Lionel«, befahl Colleen Reganhart. Sie verlieh seinem Namen eine Extrasilbe und damit etwas Feminines. Li-o-nelle. Er lächelte sie an, als wäre er dankbar für die Anweisung, und dann glitt er in einen der großen Lederstühle am Tisch. Colleen saß links von ihm, Jack rechts. Tess und der Herausgeber saßen jeweils an einer Stirnseite, eine merkwürdige Anordnung.
Pfieffers Stuhl, das fiel ihr auf, war ein wenig höher, vielleicht, um ihm einen Vorteil zu verleihen, den er an Land nicht hatte, denn er war keine 1,60 cm groß. Deshalb wurde Randall Pfieffer IV. von den Angestellten hinter seinem Rücken Eins-Sechzig genannt. Der Spitzname war nicht liebevoll gemeint, aber doch großzügig, immerhin gestand er dem Herausgeber ein paar Zentimeter mehr zu, als die Natur es getan hatte. Aber sein thronartiger Stuhl war eine Fehlkalkulation: Seine Füße erreichten den Boden nicht, sodass erst recht auffiel, wie klein er war. Glücklicherweise hatte er kein Problem, mit seiner hohen heiseren Stimme den Saal zu füllen. Glaubte man Whitney, so war er Cheerleader in Dartmouth gewesen (»Wenn es zur Sprache kommt, sag ›Brüller‹«).
Er eröffnete das Meeting. »Miss Monaghan, wir haben Sie heute hergebeten, weil wir eine Aufgabe zu vergeben haben, für die Diskretion, Takt und gewisse Kenntnisse über unser Geschäft vonnöten sind. Man hat uns versichert, dass sie über all diese Qualitäten verfügen.«
Whitney hatte also richtig dick aufgetragen. »Das hoffe ich, Mr. Pfieffer.«
»Ich möchte Ihnen gegenüber betonen, dass, soweit es uns betrifft, kein Verbrechen begangen wurde, es sind auch keine Fehlinformationen weitergegeben worden. Wir sorgen uns nur, weil wir die Wynkowski-Story am Sonntag veröffentlichen wollten. Die – ungeplante – Veröffentlichung hat uns dazu gezwungen, für den Sonntag nach einer weiteren Seite-eins-Story Ausschau zu halten. Es stört uns, dass unsere Producer … umgangen wurden, was zu diesem Dilemma führte.«
Dreißig Sekunden Gespräch, schon lag die erste Lüge auf dem Tisch. »Selbstverständlich«, stimmte Tess zu, und aus reiner perverser Fröhlichkeit setzte sie hinzu: »Ist Computerbetrug nicht ein Bundesvergehen? Wenn Sie wirklich herausfinden wollen, wer dahintersteckt, ist das FBI doch wahrscheinlich viel besser ausgerüstet, Ihr Rätsel zu lösen.«
Die Redakteure sahen einander an. Jack Sterling begann zu sprechen, wurde aber von Reganhart unterbrochen.
»Wie Randy schon sagte, stehen wir zu der Story, obwohl es uns nicht überraschen würde, wenn dieses Arschloch Wynkowski uns verklagt. Ich möchte noch einmal betonen, dass er keinerlei Gründe für eine Klage hätte. Bisher hat man uns noch auf keinerlei Irrtümer