Die Witwe des Millionärs. Laura Lippman

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Die Witwe des Millionärs - Laura  Lippman Kampa Pocket

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die Städte im Westen, die Gesetzgeber in Annapolis. New York, Hollywood, Großfirmen, kleinere Firmen, Gott, das Universum. Sie alle hatten sich einvernehmlich gegen das arme kleine Baltimore verbündet.

      Eine schmerzhaft klare Frauenstimme durchschnitt das allgemeine Elend.

      »Herrgott, Leute, erspart mir das Gejaule. Darauf habe ich nun gar keine Lust. Gleich sind wir wieder bei der weltumspannenden jüdischen Bankenverschwörung. Könnt ihr nicht mal einen Moment die Klappe halten, während ich auf mein Grilled Cheese Sandwich mit Bacon warte – ohne Tomaten, die schmecken um diese Jahreszeit wie tote Tennisbälle.«

      Die Stimme war Tess bekannt, die Attitüde erst recht.

      »Whitney Talbot«, sagte Tess und drehte sich um, sodass sie ihre alte Freundin betrachten konnte. »Was machst du denn in dieser Gegend?«

      »Tess! Ich wollte dich schon ewig anrufen. Seit du dich mit diesem kleinen Jungen eingelassen hast, bleibt dir keine Zeit mehr für deine jungfräuliche alte Freundin.« Dieses Informationsbruchstück erweckte für einen Augenblick das Interesse der anderen Anwesenden an Tess, aber schnell wanderten die Blicke wieder hinüber zu Whitney. Tess war rot angelaufen und vom Winde zerzaust – und der hinreißenden Person, die aussah wie die Göttin des Rasenhockeys, keineswegs gewachsen.

      Whitney Talbot war genauso groß wie Tess, 1,75 cm, aber dünner. Ihre dichten blonden Haare trug sie in einem sorglosen mädchenhaften Bob, und sie gab alle sechs Wochen sechzig Dollar aus, damit die Haare genau nur bis zum Kinn reichten, dem spitzesten Knochen in einem Körper voll langer spitzer Knochen. Das war ihr einziger Makel, falls Talbot überhaupt irgendwelche Makel hatte. Sie war reich und gut erzogen, da hatte man nun mal seine Macken. Tess kannte Whitneys Macken gut: Sie hatten sich im College ein Zimmer geteilt, hatten in einer Mannschaft gespielt, waren gegeneinander angetreten, sie wetteiferten insgeheim, wie es so viele Freundinnen tun.

      Tess ging an der Schlange entlang zurück und umarmte ihre Freundin. Verwandelte sie sich wirklich in eine der Frauen, die ihre Freundinnen fallen ließen, sobald ein fester Freund auftauchte? Aber es war auch ein verdammt harter Winter gewesen, man wollte sich einkuscheln, nicht ausgehen.

      »Crow ist okay, aber er ist bloß ein Typ«, sagte sie. »Dich kann keiner ersetzen, Whitney. Nimm doch dein Sandwich mit in Tyners Büro, dann können wir zusammen zu Mittag essen. Reden.«

      Whitney schüttelte den Kopf. »Ich muss zurück zum Beacon. Da ist heute die Hölle los.«

      »Wegen Feeneys Story? Ich habe gehört«, erstaunlich, wie gut sich diese Phrase nach zwei Jahren außerhalb des Jobs anhörte, »dass sie gar nicht erscheinen sollte.«

      Whitney war nicht sonderlich beeindruckt. Sie wusste, dass Tess genau zwei Quellen beim Beacon hatte, und sie war eine davon. »Hast du gehört, dass sie heute nicht kommt oder dass sie gar nicht erscheinen soll?«

      »Da weißt du mehr als ich.«

      »Echt, Tess, du weißt doch, dass der redaktionelle Teil mit den Nachrichten wenig zu tun hat. Ich habe keine Ahnung von der Wynkowski-Story, außer dass, wie man in meinem Bereich gerne sagt, man die Sache im Auge behalten soll.« Whitney war eine der jüngsten Mitarbeiterinnen der Zeitung, aber sie war für den Job gut geeignet – sie war die geborene Besserwisserin.

      »Komm schon, Talbot. Spuck’s aus. Ich hab belastende Fotos von dir aus dem College mit einer Zigarre, einem Typen und einem Fläschchen Scotch.«

      »Die alte Regel, sich niemals mit einem toten Mädchen oder einem lebenden kleinen Jungen erwischen zu lassen, gilt doch nicht für unser Geschlecht, Schätzchen.« Whitney runzelte die Stirn. »Obwohl, wenn man die Doppelmoral beim Beacon mit einbezieht, könnte die Zigarre allein alle meine Chancen zunichtemachen. Frauen dürfen einfach keinen Spaß haben.«

      »Knallt da jemand mit dem Kopf an die Glasdecke?«

      Whitney lächelte nicht einmal. »Weißt du, wo ich heute Morgen war? In einer Suppenküche an der 25th Street. Da gibt es ab 7:30 Uhr Frühstück, und vor elf sind sie nicht fertig. Und heute war wenig los, bloß zweihundert Leute. Am Monatsende sind es dreihundert. Manche Frauen kommen jeden Morgen mit ihren Kindern vorbei, damit ihre Essensmarken länger reichen.«

      »Es freut mich, dass der Beacon auch solche Themen behandelt. Normalerweise steht da nur was über die Hungernden in Afrika.«

      »Tess, vergib mir, aber ich hasse diese Sozialscheiße. Ich habe über Stadtpolitik geschrieben, ich spreche fließend Japanisch, ich hatte in College Park ein Stipendium in Wirtschaftswissenschaften. Aber darüber darf ich nicht schreiben. Und weißt du, warum? Weil ich nicht stehe, wenn ich pisse!«

      Whitneys Ausbruch war zwar nicht besonders laut gewesen, fiel aber genau in einen dieser merkwürdigen Schweigemomente, die in der Öffentlichkeit urplötzlich auftreten können. Die Männer in der Schlange traten verunsichert von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht konnten sie sich Whitney im Schlafzimmer vorstellen, sitzend wie stehend, aber nicht auf dem WC. Tess musste zugeben, dass die Vorstellung auch ihren Appetit nicht erhöhte.

      »Putensandwich extra scharf«, rief der Mann am Tresen. Tess schnappte sich die fettige braune Papiertüte, griff eine Tüte Utz Cheese Curls vom Regal und wandte sich wieder an Whitney, die mit der Konzentration eines Wachhundes den Fortschritt ihres Grilled Cheese Sandwiches beobachtete.

      »Ruf mich an, Süße.« Zuerst hatte sie das lokale Kosewort mit einer gewissen Ironie verwendet, sich aber mit der Zeit daran gewöhnt, denn Baltimore war eine ironiefreie Zone. Selbst der künstliche Spitzname »Charm City« hatte angefangen, ein Eigenleben zu entwickeln. »Crow beschäftigt mich nicht die ganze Zeit. Eigentlich ist er sogar so wild darauf, ein Rockstar zu werden, dass ich an den Wochenenden und Abenden ziemlich oft allein bin.«

      Whitney nickte abwesend. Aber als Tess sich dann aus dem Laden herausschlängeln wollte, packte Whitney plötzlich ihren Mantelärmel.

      »Tesser?«

      »Was?«

      »Wie läuft’s im Job? Als Ermittlerin? Hat Tyner viel für dich zu tun?«

      »Stellenweise.«

      »Stellenweise.« Whitney lachte. Selbst ihr Lachen erschien einem besser als das der meisten anderen Leute – kostbarer, inniger, tiefer. »Ich dachte, für die Stellen wäre nur Crow zuständig. Hast du schon deine Lizenz? Hast du dir eine Waffe gekauft? Du weißt ja, wenn du mit mir mal auf den Schießstand willst …«

      »Ich hab noch keine Waffe. Du weißt doch, was ich davon halte.« Whitney hatte ihr Leben lang mit ihrem Vater Enten und Tauben gejagt. Sie hatte immer ein Gewehr in Reichweite, und sie hatte versucht, Tess am Washington College für diesen Sport zu interessieren. Vergebens.

      »Ich weiß, ich weiß. Aber du solltest dir eine Lizenz besorgen, sie steht dir gesetzlich zu. Wenn du letzten Herbst deine Waffe dabeigehabt hättest …«

      »Dann hätte ich mir wahrscheinlich versehentlich in den Fuß geschossen.« Und alle, die tot waren, wären immer noch tot, erinnerte sie sich, wie immer, wenn jemand von jenem schrecklichen September sprach – was hätte sein können, wer noch am Leben wäre. Der kleine Film, der auf ewig in ihren Träumen zu laufen schien, spielte erneut in ihrem Kopf, ein Vorspann für die Albträume der kommenden Nacht.

      »Wenn du meinst.« Whitney küsste sie auf die Wange, und es war keiner dieser unechten Luftküsse, wie sie Menschen ihrer Klasse vergaben, sondern ein echter

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