Die Witwe des Millionärs. Laura Lippman
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Читать онлайн книгу Die Witwe des Millionärs - Laura Lippman страница 8
»Nehmen wir mal an, du hättest die Story deines Lebens geschrieben, Tess«, sagte er und beugte sich zu ihr herüber. Sein Gesicht war ihrem so nahe, dass sie den Gin riechen konnte, den er zu sich genommen hatte, und auch ein wenig Tabak. Merkwürdig – Feeney hatte vor Jahren aufgehört zu rauchen. »Die beste Story, die du dir vorstellen kannst. Stell dir vor, darin wäre alles, was du von einer Geschichte erwarten kannst, und für alles gibt es mindestens zwei Quellen. Und stell dir vor, diese gottverdammten feigen Ratten wollen es nicht drucken.«
»Das hat irgendwas mit dieser Basketballgeschichte zu tun, oder? Die Story, von der du mir gestern noch nichts sagen wolltest.«
Feeney nahm seine Gabel und begann, in den Happy-Hour-Ravioli herumzustochern, bis kleine Tomatensoßenspritzer das Tischtuch zierten. »Na, jetzt kann ich sie dir ja erzählen. Überhaupt wird sie nur dann jemand hören, wenn ich sie erzähle. Vielleicht sollte ich mich mit einem Schild an die Straßenecke stellen und anbieten, sie für einen Dollar vorzulesen.«
»Wie gut ist sie? Wie groß?«
Wieder antwortete er mit seiner Singsang-Dichterstimme: »Wink Wynkowski, Baltimores größte Hoffnung, eine Basketballmannschaft nach Baltimore zu locken, hat in seiner Vergangenheit vieles getan, über das er lieber nicht spricht, vor allem nicht mit der NBA. Seine Geschäfte sind ein Kartenhaus, er steht kurz vor der Pleite, wird von Anwälten verfolg wegen Sachen von ›Ambulanter Notdienst‹ bis ›Zippys Druckerei‹. Vielleicht kann er genug für eine Mannschaft zusammenkratzen, aber er ist nicht flüssig genug, sie anschließend zu finanzieren.«
»Warum will er dann eine kaufen, wenn es ihn in den Bankrott treibt?«
»Gute Frage. Zwei mögliche Antworten. Er ist dumm – das darf man bezweifeln. Oder er will die Mannschaft ziemlich schnell wieder verkaufen, sobald die Stadt ihm die neue Sporthalle gebaut hat, die den Wert der Mannschaft über Nacht verdoppelt.«
»Das kommt mir ein bisschen weit hergeholt vor.«
»Hey, erinnerst du dich an Eli Jacobs? Der hat 1980 die Orioles für 70 Millionen gekauft. Als in der Rezession seine Geschäfte zusammenbrachen, hat er sie für fast 175 Millionen verkauft, und es war Camden Yards, bezahlt vom Staat, das die Mannschaft so teuer machte. Wenn Wink es schafft, seine fliegenden Bauten noch ein paar Jahre intakt zu halten und die Mannschaft zu verkaufen, bevor seine Kreditgeber ihm die Luft abwürgen, streicht er einen Riesengewinn ein.«
»Gibt es noch mehr?« Feeney runzelte die Stirn. »Nicht, dass da mehr sein müsste«, setzte sie eilig hinzu. »Du hast die Punkte miteinander verbunden, ich kann das Bild sehen.«
»Aber es gibt mehr. Viel mehr. Dunkle Geheimnisse. Eine üble erste Ehe. Miese Angewohnheiten, die gar nicht zum Profisport passen. Wie viel würdest du für diese Story bezahlen? 39,95 Dollar? 49,95? 59,95? Warte, sag nichts – wie wäre es, wenn wir noch ein paar Ginsu-Messer dazugeben?« Er begann, leicht hysterisch zu lachen, dann riss er sich zusammen. »Glaub mir, Tess. Die Story steht. Ich wünschte, mein Haus stünde auf einem ähnlich soliden Fundament.«
»Wieso bringt die Zeitung sie dann nicht?«
»Alle möglichen Gründe. Sie behaupten, sie wäre nicht hieb- und stichfest. Dass es rassistisch wäre, so aggressiv mit einer NBA-Story an den Start zu gehen, wo wir doch den Football, der vor allem die Weißen interessiert, ohne Gegenwehr in die Stadt gelassen haben. Sie sagen, wir hätten zu viele anonyme Quellen, aber ein paar der Leute, die mit mir geredet haben, arbeiten nun mal noch für Wink, Tess. Die haben gute Gründe, anonym bleiben zu wollen. Einer vor allem. Die Chefredakteure haben uns heute Nachmittag gesagt, wir müssten ihnen alle Namen der Quellen nennen, bevor sie die Geschichte bringen. Sie wussten, dass ich das nicht tun würde, eher würde ich die Geschichte aufgeben. Und genau darum ging es. Sie brauchten eine Entschuldigung, um der Story den Garaus zu machen, weil sie uns nicht trauen.«
»Uns?«
»Rosie und mir. Du hast sie kennengelernt. Sie ist gut für eine Anfängerin. Du solltest mal die Sachen sehen, die sie über Winks erste Ehe rausgefunden hat.«
»Dann trauen sie doch wahrscheinlich ihr nicht. Weil sie neu ist und jung.«
Feeney schüttelte den Kopf. »Beim Beacon heutzutage ist es besser, neu und jung zu sein als alt und alt. Sie. Ich. Wir beide. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Ich bin müde, Tess. Ich bin so müde, und es ist so eine verdammt gute Story, und am liebsten würde ich mich einfach jetzt hier auf dem Tisch schlafen legen, aufwachen und dann feststellen, dass sie sie doch noch gedruckt haben.«
»Feeney, ich bin sicher, sie werden sich bei dir entschuldigen, und du wirst deine große Story bekommen«, sagte sie und schob sein Wasserglas näher zu ihm hin in der Hoffnung, ihn abzulenken. Er scheint sich zu beruhigen, dachte sie. Vielleicht ist der Abend noch zu retten.
Feeney sprang auf. Er umklammerte das Martiniglas immer noch fest. »Es geht doch nicht um mich oder meine große Story!«, rief er. Die anderen Barbesucher schauten sich nach ihm um, sie betrachteten ihn überrascht und verärgert.
»Okay, es geht um mich«, zischte er, wobei er sich herunterbeugte, sodass nur Tess ihn hören konnte. Er hatte so viel getrunken, dass ihm Gin aus den Poren zu kommen schien. »Es geht um meine Karriere oder was davon noch übrig ist. Aber es geht auch um diese wichtigen Sachen, um die es in Zeitungen doch eigentlich gehen sollte. Du weißt schon – Wahrheit, Gerechtigkeit, der erste Zusatzartikel, die vierte Macht. Wir sollten keine Cheerleader sein, die ›Lah-lah-lah, gib uns den Ball‹ rufen. Wir sind gottverdammte Wachhunde, die einzigen, die es interessiert, ob die Stadt gut bei etwas abschneidet oder von irgendeinem Drecksack über den Tisch gezogen wird.«
Er schwankte beim Sprechen ein wenig, und seine Worte verschwammen. Er brachte kaum noch Konsonanten hervor, aber er war nicht so betrunken, wie fünf Martinis vermuten ließen. Seine Trauer hatte ihn stärker im Griff als der Alkohol.
»Feeney, was soll ich denn dagegen tun?« Tess war nicht die beste Zuhörerin, wenn es um die Ehre des Journalismus ging.
»Was schon, trink auf das Ende meiner Karriere!«, dröhnte er und prostete allen Anwesenden mit seinem inzwischen leeren Glas zu. Die üblichen Verdächtigen hoben erleichtert ihre Gläser. Das war der Feeney, den sie kannten, der für das Publikum spielte.
»Weshalb bist du so glücklich?«, rief ein weißhaariger Mann von der Bar aus.
»Bin ich glücklich? Bin ich frei? Die Frage ist absurd! Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe!« Feeney knallte sich seine zerknitterte Kappe auf die Rübe und eilte hinaus, die Fransen seines Schals flogen hinter ihm her, das Martiniglas behielt er in der Hand. Tess blieb mit einem halb ausgetrunkenen Martini, Feeneys Rechnung und ohne Gesellschaft für die Tortellini, auf die sie sich gefreut hatte, zurück. Feeney wusste, wie man abging, das musste man ihm lassen. Nur die Anspielung auf Charles Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten war ein bisschen ungewöhnlich – zu leicht erkennbar für Feeneys Geschmack. Er bevorzugte unbekanntere Zeilen, wie die davor: Bin ich glücklich? Bin ich frei? Das kam ihr verdammt bekannt vor, aber ihr fiel nicht ein, woher.
Es war noch nicht acht Uhr, und jetzt war sie allein, und außerdem verdammt hungrig. Tess hasste es, allein im Restaurant zu essen. Eine Charakterschwäche,