Die Witwe des Millionärs. Laura Lippman

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Die Witwe des Millionärs - Laura  Lippman Kampa Pocket

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      Ein kleiner, muskulöser Mann tauchte hinter Kitty auf. Er trug einen karierten Bademantel, den Tess in den zwei Jahren, die sie über ihrer Tante wohnte, schon an vielen Männern gesehen hatte. Sie kannte diesen Typen nur vom Sehen – er war Barkeeper in einem neuen Laden an der Thames Street, einer der sogenannten Megabars, gegen die sich die Nachbarschaft in Fells Point engagierte. Aber Kitty war immer schon sehr offen gewesen; sie konnte sich gegen ein Geschäft einsetzen, aber sich dennoch gut mit den Angestellten verstehen.

      »Das ist einer dieser Windhunde von den Hunderennen«, stellte der Barkeeper selbstzufrieden fest. »Wie lang hast du ihn schon?«

      Erstaunlich, wie manche Männer ihr eigenes Geschlecht auf alles projizieren, als müssten alle Lebewesen männlich sein bis zum Beweis des Gegenteils.

      »Ich hab sie seit ungefähr zwölf Stunden.«

      »Na, da hast du die Ursache des Problems. So ein ehemaliger Rennhund hat noch nie Treppen gesehen, also musst du ihn erst dran gewöhnen. Ein Fuß, anderer Fuß. Ein Fuß, anderer Fuß. Mein Cousin hatte mal einen Windhund. Man hilft ihnen rauf und runter, bis sie’s kapieren. Sie kennen auch keine Spiegel.«

      »Das Glück sollten Frauen haben«, murmelte Kitty. »Das ist übrigens Steve. Steve, das ist meine Nichte Tess.«

      »Nichte?«

      Andere Frauen hätten ihm sofort versichert, dass Tess’ Vater viele Jahre älter sei. Tess’ Tante Kitty war der Nachschlag in einer Familie mit vier Jungs, und sie war keine fünfzehn Jahre älter als die 29-jährige Tess. Aber Kitty war selbstsicher, lächelte einfach nur und nickte.

      Tess kniete sich vor Esskay und führte die Vorderbeine der Hündin eine Stufe herunter. Die Hündin war erstaunlich kooperativ, sie ließ jede Pfote hochnehmen und absetzen. Aber sie ging nicht alleine weiter. Eins-zwei, Vorderbeine runter, drei-vier, Hinterbeine. Wiederholen. So brauchte Tess ein paar Minuten, um auch nur den Treppenabsatz zu erreichen, wo sie innehielt, um Atem zu schöpfen. Sie war gut in Form, aber ganz offensichtlich hatte sie bei ihren normalen Workouts die Muskeln vernachlässigt, die man für das Windhund-Treppentraining brauchte. Und Kauern war die Hölle für ihren Rücken und die Knie.

      »Was wissen sie außerdem noch nicht?«, rief Tess zu Barkeeper Steve hoch, als sie mit Esskay die zweite Treppe in Angriff nahm.

      »Sie sind an Zwinger gewöhnt, aber nicht stubenrein. Und du solltest sie nicht anschreien, wenn sie was nicht hinbekommt. Sie sind richtig, richtig empfindlich.«

      »Sind wir das nicht alle?«

      Tess war völlig fertig, als sie das Erdgeschoss erreichte, aber die Hündin war plötzlich ganz aufgeregt. Sie hob die Schnauze und bleckte die Zähne, sodass sie aussah wie James Cagney. Tess umrundete mit ihr ein paar leere Grundstücke in Fells Point, die Esskay geruchlich faszinierend fand. Tess meinte sich zu erinnern, dass es eine städtische Regel gab, nach der man hinter seinem Hundchen herputzen musste, aber andererseits ging sie davon aus, dass Hundekot das geringste Problem auf Grundstücken wäre, die seit fünf Jahrzehnten mit Chemikalien und Giften belastet wurden.

      Es roch gut aus Kittys Küche im Erdgeschoss, als sie nach Hause zurückkehrte. Tess blieb im Flur stehen und fummelte an Esskays Leine herum. Sie hoffte hereingebeten zu werden, und sei es nur, um den langen Aufstieg zu ihrer Wohnung noch hinauszuzögern. Kitty ging wie alle Monaghans davon aus, dass Spike der Weinstein-Seite der Familie zuzuordnen war, aber sie hatte ihn immer gemocht. Sie wollte also mehr über seinen Zustand wissen. Und deshalb öffnete die großzügige Kitty ihre Tür und bat Tess herein.

      Kittys Küche war eigenartig für jemanden, der hochhackige Schuhe anziehen musste, um auch nur einsfünfzig zu erreichen. Alles war übergroß, sodass Kitty darin wie ein Püppchen aussah. Aber Tess war schon vor langer Zeit aufgefallen, dass das kein Zufall war, denn normalerweise führte es dazu, dass Kittys neuester Freund stets das Essen zubereitete. Der Freund war außerdem meist fünfzehn Jahre jünger als die über vierzigjährige Kitty, eine clevere Rothaarige, die die Sonne gemieden hatte, während andere Frauen ihrer Generation sich mit Babyöl eingepinselt hatten.

      Heute gab es French Toast von Barkeeper Steve. Er wirkte kräftig, was Tess nicht gefiel. Kleine Männer, die so viel Zeit damit verbrachten, ihre Muskeln auszubilden, neigten dazu, andere wichtige Bereiche zu vernachlässigen. Aber ihr hatte sowieso keiner der Freunde ihrer Tante gefallen, seit Thaddeus Freudenberg auf die FBI-Akademie in Quantico gegangen war. Das war im Januar gewesen – zwei Monate im Kalender, vier Freunde in Kittys Kalenderrechnung.

      »Hat Tommy dir sagen können, was gestern passiert ist?«, fragte Kitty, während Tess sich einen Kaffee eingoss. »Und wie geht es Spike?«

      »Nicht so gut. Er wurde bewusstlos, während wir dort waren. Jemand – mehrere – haben ihn sich richtig vorgeknöpft. Und das wegen dreißig Dollar oder so.«

      Steve interessierte sich nicht für weltliche Familienthemen wie den Raubüberfall und Beinahetod eines Verwandten, sodass er das Gespräch wieder auf ein Thema steuerte, bei dem er dominieren konnte.

      »Hast du den Hund von einer dieser Tierrettungsgruppen der Stadt?«, fragte er und servierte Tess zwei Scheiben French Toast, dann streute er Puderzucker darauf. Tess wäre an einem Dienstagmorgen etwas weniger Klebriges lieber gewesen, ein Bagel oder eine Schüssel Müsli, aber sie würde sich nicht beklagen.

      »Ich hab sie von meinem Onkel Spike.«

      »Er muss sie gerade erst bekommen haben, wenn sie nicht weiß, wie man Treppen geht. Und diese wunden Stellen an ihrem Hintern, das kommt von den engen Zwingern.«

      Esskay wimmerte, als hätte sie bemerkt, dass sie im Mittelpunkt eines nicht gerade schmeichelhaften Gesprächs stand. Kitty brach ein Stückchen Toast ab und hielt es der Hündin hin, die es erstaunlich flink verspeiste.

      »Du solltest die Tierrettung anrufen und dir helfen lassen«, fuhr Steve fort. »Es gibt alles Mögliche, was du wissen solltest.«

      »Zum Beispiel?« Kitty würde es nicht lange mit ihm aushalten, befand Tess, egal welche Talente er in Küche oder Boudoir hatte. Sie mochte es morgens ruhig.

      »Essen. Bewegung«, sagte er vage und ließ seine Gabel durch die Luft kreisen. Tess hatte das Gefühl, das Ende seines Windhund-Wissens sei erreicht.

      Als Steve seine Gabel mit einem Stückchen French Toast durch die Luft wedelte, sprang Esskay hoch und schnappte sich den süßen Bissen. Zum ersten Mal strahlten die Augen der Hündin, und sie ließ nicht mehr den Kopf hängen, als bettelte sie, nicht geschlagen zu werden. Esskay schien bereit zu sein, einen Kampf um den Rest des French Toast anzutreten.

      »Ich hab eine Idee«, sagte Tess und schnitt den Rest ihres French Toast in kleine Stückchen. »Kitty, komm bitte mal kurz raus in den Flur.«

      Am unteren Ende der Treppe reichte Tess Kitty den Teller und schickte sie auf halbe Höhe der ersten Treppe. Dann kniete sie sich selbst hinter die Hündin und legte die Hände auf deren Hinterbeine.

      »Jetzt halt ihr eins der Toaststückchen hin«, sagte sie zu ihrer Tante. Kitty nahm eines der kleineren Stückchen zwischen Daumen und Zeigefinger, während Tess die Beine der Hündin die Treppe hinaufführte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Rechts, links, rechts, links. Sie konnte die Anspannung des armen Tieres spüren, während es den Hals streckte, um näher an das Stückchen French Toast zu kommen, das nur ein paar Zentimeter vor ihrer Schnauze in der Luft schwebte.

      »Jetzt geh ein paar Stufen höher.«

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