Die Politik Jesu. John Howard Yoder
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Es wäre daher unangemessen, im Rahmen eines doch kurzen Buches, den Text als solches umzuschreiben, um ein Vierteljahrhundert Forschung aufzuholen. Das Buch sollte nie ein Kompendium neutestamentlicher Forschung sein, sondern nur an einigen Beispielen eine Hauptthese unterstützen.
Diese „Hauptthese“ gehört jedoch nicht ins Gebiet der Exegese, sondern der ethischen Methodenlehre. Sie hat noch nicht einmal mit dem Inhalt des ethischen Zeugnisses der neutestamentlichen Texte an sich zu tun, sondern mit der Frage, ob ihr Zeugnis „politisch“ ist.
Dennoch fragen Leserinnen und Leser zu Recht, inwieweit die damals in der Synthese von 1972 zusammengefassten Einsichten von der weiteren Forschung unterstützt oder hinter sich gelassen wurden. Im Großen und Ganzen wurden sie „bestätigt“, doch nur eine Detailuntersuchung kann diese generelle Feststellung belegen. Für die vorliegende Revision der Politik Jesu bedeutet das, dass der Text selbst nur minimale Veränderungen erfährt, auf die meisten Kapitel jedoch ein kurzer aktualisierender Kommentar folgt. Darin versuche ich die Linien der weiteren Forschung herauszuarbeiten. In der Vorbereitung dieser Kommentare und anderen aktualisierenden Detailarbeiten wurde ich unterstützt von Kim Pfaffenroth.
Zweierlei konnte und sollte ich in einer solchen Aktualisierung nicht tun: a) umfassend Rechenschaft geben, „wie sich mein Denken in einem Vierteljahrhundert verändert hat“, oder b) detailliert auf die Kritik an bestimmten Passagen eingehen. Es gibt natürlich zahlreiche Punkte, wo meine Position von 1972 korrigiert oder zurück genommen werden müsste. An anderen Stellen wäre es angebracht, sie gegen Fehlinterpretationen zu verteidigen oder sich mit Dialogpartnern auseinanderzusetzen, die sie zwar richtig verstehen, aber anderer Meinung sind. Eine solche Vorgehensweise würde jedoch viel mehr Raum erfordern und auch eine wesentlich diffizilere Argumentation, als der ursprüngliche Text beabsichtigte. Eine Überarbeitung des ganzen Buches hätte die Revision also unangemessen überlastet.
Etwas anderes sind stilistische Änderungen des Originaltextes, etwa um auf den heute sensibleren Umgang mit geschlechtsspezifischen Ausdrücken einzugehen. Die wichtigsten Beiträge zur Überarbeitung in dieser Hinsicht kamen von Augustus und Laurel Jordan.
In meinem ersten Vorwort bezeichnete ich meine Art der Exegese mit dem Begriff „biblischer Realismus“. Unter Fachwissenschaftlern war das ein in den 1960ern gängiger Ausdruck. Wie die wesentlichen Inhalte meiner Darstellung war es kein eigenes von mir geschaffenes Konzept. Der Begriff wurde jedoch nie sehr bekannt, noch versuchten die Forscher, die er damals bezeichnete, jemals konzertiert als Team oder „Schule“ zusammen zu arbeiten. Es bezeichnete einen Ansatz, der sich aller Werkzeuge der literarischen und historischen Kritik bediente, ohne sich von der traditionellen Schulwissenschaft fesseln zu lassen oder zuzulassen, dass der Kirche die Schrift weggenommen wird.
Gegen meine Intention wurde dieses Buch von manchen als eigenständiger Ansatz wahrgenommen, Bibel und Kirche oder Bibel und Ethik aufeinander zu beziehen.1 Andere missverstanden es als „fundamentalistisch“.
Hätte ich gewusst, dass das Buch als Prototyp einer ambitionierten oder fundierten Methodik auf den Prüfstand gestellt würde, hätte ich mich womöglich stärker auf eine Erörterung der theoretischen Prolegomena eingelassen – oder gerade das verweigert, denn in der abstrakten Methodendiskussion gerät man leicht an einen Punkt, wo solche Diskussion sich dem biblischen Text in den Weg stellt und ihm seine zentrale Rolle in der Identität der Kirche streitig macht.
1 Etwa von Birch und Larry Rasmussen, die mich in zwei Auflagen von Birch & Rasmussen (1976) auf verschiedene Weise und in verschiedenen Belegen so zitierten. Ähnlich bei Curran (1981).
KAPITEL 1
Die Möglichkeit einer messianischen Ethik
Das Problem
Unsere Zeit erhebt einerseits den Anspruch, das Christentum hinter sich gelassen zu haben. Man spricht von der nachchristlichen Gesellschaft. Andererseits scheint Jesus, je mehr die traditionelle, kirchlich sanktionierte Auslegung seiner Worte und Werke verblasst, auf viele und besonders auf junge, kritische Menschen eine verstärkte Faszination auszuüben. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass seit Ende der 1960er Jahre viele junge Männer dem Jesus der Sonntagsschulplakate sehr ähnlich sehen. Auch die Rebellen der Studentenrevolte trugen Bart und langes Haar. Ihre Behauptung, Jesus sei ebenfalls ein Sozialkritiker, ein Agitator,2 ein sozialer Drop-Out und der Sprecher einer Gegenkultur gewesen, ist sicher nicht zufällig.
Unter den Theologiestudenten der westlichen Welt fiel die „Theologie der Befreiung“ auf fruchtbaren Boden, weil sie eben diese Behauptung aufstellt. Kann die christliche Ethik diese These genauso schlagfertig (bzw. leichtfertig) zurückweisen, wie sie oft aufgestellt wird? Könnte der Vorwurf mangelnder Ehrfurcht oder der Vereinnahmung für eigene Ziele nicht leicht auf sie zurückfallen? Oder steckt hinter dieser vielleicht übertriebenen Aussage eine biblische Wahrheit, die nun erst, da Revolution zum Schlagwort unserer Zeit geworden ist, in die allgemeine Wahrnehmung einbricht? Hat die ehrfurchtsvolle und „verantwortliche“ christliche Ethik in dieser Beziehung versagt?
Das behauptet diese Arbeit. Sie behauptet nicht nur, dass Jesus dem biblischen Zeugnis nach ein Modell radikalen politischen Handelns darstellt, sondern dass dieser Sachverhalt jetzt in der neutestamentlichen Forschung allgemein sichtbar wird, auch wenn die Neutestamentler ihn bisher nicht so entschieden vertreten haben, dass die Ethiker am anderen Wegrand ihn zur Kenntnis nehmen mussten.3
Eben dies zu tun, ist alles, was die vorliegende Arbeit leisten will; die Geschichte von Jesus so sprechen zu lassen, dass jeder, der sich mit Sozialethik befasst, zuhören kann, statt wie bisher mit einer Reihe von Standardausflüchten anzunehmen, Jesus sei nicht oder zumindest nicht in erster Linie relevant für gesellschaftliche Angelegenheiten.
Ein solcher Versuch der interdisziplinären „Übersetzung“ hat seine spezifischen, ernstzunehmenden Risiken. Er muss beiden Parteien, die er gegenseitig in Hörweite bringen will, übervereinfachend erscheinen, da er damit beginnt, die Grenzen und Axiome der jeweiligen Disziplin nicht zu respektieren. Zudem ist der „Übersetzer“ oder Brückenbauer immer irgendwie ein Fremder, in gewisser Weise ein Laie, der außerhalb seines Fachgebietes wildert. Wir können zur Entschuldigung nur geltend machen: Hätten die Experten die dringend benötigte Brücke gebaut, so hätte der Laie dazu nicht antreten müssen.
Unsere Arbeit versucht also die Beziehung zu beschreiben, die das Studium des Neuen Testaments4 mit der zeitgenössischen Sozialethik verbinden könnte, besonders da die zweite Disziplin sich zur Zeit vordringlich mit den Problemen der Gewaltausübung und Revolution beschäftigt.5 Die Theologen haben lange die Frage nach der Beziehung zwischen Jerusalem und Athen erörtert; hier wird behauptet, dass Bethlehem etwas über Rom – oder Massada – zu sagen hat.
Mit welchem Recht aber darf es einer wagen, ein Seil über den tiefen Graben werfen zu wollen, der gemeinhin die Disziplinen neutestamentlicher Exegese und zeitgenössischer Sozialethik trennt? Normalerweise müsste jedes Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen des Diskurses extrem lang und indirekt sein. Als erstes ist da die enorme Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden, und zwar mit Hilfe der Hermeneutik von der Exegese zur zeitgenössischen Theologie; sodann muss ein weiterer großer Schritt von der Theologie zur Ethik getan werden, über die Soziologie und Ernst Troeltsch. Aus der Perspektive des Kirchengeschichtlers, der normalerweise auf einer Insel zwischen beiden Abgründen