Die Politik Jesu. John Howard Yoder
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Politik Jesu - John Howard Yoder страница 9
KOMMENTAR ZU KAPITEL 1
Die Möglichkeit einer messianischen Ethik
Die Grundthese
Bei einer Bestandsaufnahme der Reaktionen auf Die Politik Jesu muss der erste Schritt darin bestehen, den Debattenstand der neutestamentlichen Forschung zu betrachten, inwiefern Jesus im Grundsatz eine politische Person war. Unter den Fachtheologen gibt es im Detail immer noch tiefe Meinungsverschiedenheiten, doch weniger denn je wird behauptet, Jesus sei apolitisch gewesen. Ernst Bammel und C. F. D. Moule etwa, zwei der angesehensten Forscher der älteren Generation, veröffentlichten die Dokumentation eines umfangreichen Symposiums, Jesus and the Politics of His Day.19 Es ging ihnen vor allem darum, der extremen These von Brandon entgegenzutreten. Doch konnten sie es nicht vermeiden, ihm dabei auf halbem Weg entgegenzukommen.
Die umfangreiche Forschung auf diesem Gebiet20 und der dahinter stehende größere Forschungszusammenhang entstand nicht als Reaktion auf Die Politik Jesu. Manches reagiert, wie schon erwähnt, direkt auf die weiter reichende These Brandons21, Jesus sei zwar sehr politisch gewesen, doch auf ganz herkömmlich gewalttätige, staatsorientierte und militärische Weise.
Manche Forscher bearbeiten die Fragestellung: „War Jesus politisch?“ mit innovativen Methoden („postmodern“, poststrukturalistisch“ oder „soziologisch“), die es so in den 1960ern noch nicht gab. Was es heißt, dass jeder Leser eines Textes eine spezifische ihm eigene Perspektive hat, statt eine quasineutrale „Objektivität“ zu suchen oder zu behaupten, ist selbst Teil weitergehender Methodendiskussion. Diese Debatte hat sich seit 1970 geradezu wuchernd ausgebreitet. Ich will hier keine Einschätzung wagen, was diese neuen Interpretationsraster leisten können, doch sie werden keinesfalls zu dem vorkritischen, apolitischen Jesus zurückkehren.22
Die zu beobachtende Wiedergewinnung der politischen Dimension des Dienstes Jesu wurde gefördert durch spezifische Interpretationsperspektiven, besonders im breiten Spektrum verschiedener „Befreiungstheologien“. Als einigermaßen informierter Amateur auf diesem Gebiet habe ich dazu zwar eine Meinung,23 doch die These der Politik Jesu hängt nicht davon ab, ob ich auf dem neuen Themenfeld „Befreiungstheologie“ eigene Fachkompetenz behaupte. Grundvoraussetzung für die angemessene Lektüre jeden Textes ist die Empathie oder Kongenialität des Lesers mit der Intention oder dem Genre des Textes. Wir erwarten kaum, dass einer, der dem Fach Mathematik feindselig gegenübersteht, einen mathematischen Text als Experte liest. Einen Text der Gattung Evangelium unter der Grundannahme zu lesen, so etwas wie „Gute Nachricht“ könne es gar nicht geben, scheint ebenso unangemessen – ob es sich nun um eine echte Botschaft oder eben um diese Textgattung handelt.
Ich möchte mit diesen Bemerkungen nicht die zahlreichen kritischen Einwände gegenüber manchen allzu groben Vereinfachungen und Kurzschlüssen vom Tisch wischen, wie sie in Theologien unter der Überschrift „Befreiung“ auch formuliert wurden.24 Solche Kritik ist jedoch nur dann berechtigt oder angemessen, wenn sie Bezug nimmt auf den Text und dessen Kontext. Es kann nicht grundsätzlich als falsch angesehen werden, den Text des Neuen Testaments als Zeugnis einer Befreiungsbewegung zu lesen.
Warum nicht Jesus?
Eine zweite Komponente meiner seit 1972 anhaltenden Auseinandersetzung mit kritischen Kommentaren muss sich den Gründen (S. 11ff) zuwenden, die verschiedene Schulen der Ethik anführen, Jesus nicht unmittelbar als ethisches Modell zu nehmen. Damals identifizierte ich sechs solcher Gründe. Es finden sich noch weitere: So gibt es, selbst wenn wir Jesus nachfolgen wollen, eine historisch-kritische Skepsis, inwiefern der Text überhaupt ausreichend klare Aussagen ethischer Wegweisung liefert. Die Aufmerksamkeit der Experten für die Kluft innerhalb des Kanons zwischen dem, „was wirklich geschah“, und „was der Text tatsächlich sagt“, hat sich in der letzten Generation in komplexer Weise weiter entwickelt. Es gibt immer noch Forscher, die sehr skeptisch sind, was die Zuverlässigkeit der alten Texte in historischen Details betrifft. Andere zeigen größeres Vertrauen, dass die Texte einen verlässlichen historischen Kern enthalten.25 In beiden Fällen hat die Entwicklung der Forschung jedoch weder zur Entdeckung eines unpolitischen Jesus geführt, noch haben gerade die scharfsinnigsten Forscher es aufgegeben, sich auf die Autorität der Figur hinter dem Text zu beziehen.26
Eine weitere historisch-kritische Debatte fragt nicht, ob in den alten Texten klare Aussagen zu finden sind, sondern ob das Gefundene innere Konsistenz hat. Jeder neutestamentliche Autor hatte seine eigenen Quellen und seine spezifische Leserschaft. Ein und derselbe Autor konnte unterschiedliche Leser in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichem Rat ansprechen. Jeder Redakteur konnte verschiedene Traditionen aus mehr als einer Quelle weitergeben. Diese Beobachtung mag fundamentalistische Grundannahmen infragestellen oder die einer altprotestantischen Schulphilosophie, in denen der Inhalt des Glaubens, dem die Menschen treu bleiben wollen, nicht wirklich biblisch ist, sondern ein nahtlos konsistentes System von Lehrsätzen darstellt, worin alle offenbarten „Lehren“ eine zusammenhängende Einheit bilden. Diese Wahrnehmung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit untergräbt jedoch in keiner Weise ein postkritisches oder narratives Verständnis. Für ein solches Verständnis besteht das Zeugnis eines Textes zum einen aus dessen ursprünglicher Richtung und bewegt sich zum anderen auf der Linie früher Überlieferung bis zur gegenwärtigen Herausforderung, und zwar innerhalb des Lebenszusammenhangs der Gemeinschaft für die und zu der der Text spricht oder gesprochen hat. Aus dieser Perspektive ist Einheit in Vielfalt glaubwürdiger und hilfreicher, als simple Uniformität es sein könnte.
Unter jüngeren Forschern gibt es eine allgemeine theologische Voreingenommenheit gegen die historisch partikulare Qualität der narrativen und prophetischen Stränge der Schrift und ihre Verkündigung eines „handelnden Gottes“27 zugunsten der „weisheitlichen“28 Überlieferung, also zugunsten weniger zeit- und ortsgebundener ethischer Einsichten. Niemand wird abstreiten, dass das Alte wie das Neue Testament sein Zeugnis in zahlreichen literarischen Gattungen entfaltet.29 Daraus folgt jedoch weder priori noch empirisch, dass Jesus als Weiser,30 als Rabbi,31 als inkarnierte Weisheit32 politisch weniger relevant wäre als Jesus, der gewaltfreie Zelot.
Es gibt den Versuch einiger systematischer Theologen, das Zeugnis der Evangelien durch ein wesentlich späteres erkenntnistheoretisches Raster zu filtern. Sehr populär ist das „distributive“ erkenntnistheoretische Modell der Trinität, wie es von H. Richard Niebuhr vertreten wird.33 Man solle die Wichtigkeit Jesu für die Ethik nicht übertreiben, argumentiert Niebuhr, denn Gott, der Vater, steht für eine andere (wohl eher institutionell konservative) Sozialethik, die sich auf ein Verständnis der Schöpfung oder Vorsehung gründet, deren Inhalt sich nicht von Jesus, sondern anderswo herleitet. Gegründet auf die seit Pfingsten in der Kirchengeschichte fortschreitende Offenbarung, führe uns Gott, der Heilige Geist, ebenfalls zu einer anderen Ethik.34 Dieses einflussreiche Schema verdient sorgfältige kritische Aufmerksamkeit,35 doch da es sich aus einer modernen, dem Neuen Testament fremden Erkenntnistheorie herleitet, gehört das Argument nicht hierher. Niebuhrs Analyse macht keine der drei Personen der Trinität mehr oder weniger politisch als die anderen. Würde eine solche Differenzierung überhaupt inhaltliche Differenzen herausarbeiten,36 so zugunsten einer anderen politischen Ethik, nicht aber zugunsten einer apolitischen Haltung. Sie würde voraussetzen, dass Jesus politisch ist.37
Jesus kam nicht, eine Lebensweise zu lehren. Seine Rolle ist die des Erlösers. Und dass wir einen Erlöser brauchen, zeigt sich schon darin, dass wir nicht nach den von ihm