Du bist es vielleicht. Felix Scharlau
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Читать онлайн книгу Du bist es vielleicht - Felix Scharlau страница 8
Wie egal Tripke das schlechte Wetter war. Er hatte einen Lauf, dass es langsam unheimlich wurde. Erst der perfekte Kreis vor zwei Monaten. Gefolgt von ungewohnter, fast blinder Bewunderung durch die Schüler. Und nur wenige Stunden danach der Fund von Bernadettes hastig gekritzelter Note.
Timo Tripke war zuvor noch nie mit einem Abschiedsbrief bedacht worden. Aber der hier kam ihm vor wie einem von Bernadettes Fernsehspielen entsprungen.
Sie schilderte darin »versäumte Chancen«. Sprach von einer »schrecklichen Leere« in ihr. Ob Timo sie nicht auch »spüre«. »Tiefe Trauer« empfinde sie, dass »alles« nicht mehr »klappte«. Es kämen für beide aber bestimmt wieder »bessere Zeiten«.
Er gab Deutsch. In der Theorie kannte er diesen sentimentalen Quark. Und er würde ihn erwidern, wenn er ihn nur empfinden könnte. Bedauern, Trauer, Aufbruch, carpe diem. Shakespeare.
Abgang Bernadette in schwesterliche Wohnung.
Vorhang.
Ihre Beziehung war schon lange kaputt gewesen, das wurde ihm langsam klar. Zum ersten Mal war ihm die Kluft zwischen ihnen vor drei Jahren aufgefallen. An Opas 90. Geburtstag, seinem letzten, war sie zunächst distanziert und später heillos betrunken. Timo war es peinlich gewesen vor Opa. Schon die dritte Tripke-Generation infolge, die den Anschein machte, nicht in der Lage zu sein, eine normale Ehe zu führen. Dabei war er doch anders. Das hatte er damals zumindest noch geglaubt.
Tripke grübelte manchmal, ob Walter sechs Wochen später, bevor er auf die Planken knallte, an ihn und Bernadette zurückgedacht haben mochte. Der letzte Abend, an dem seine Familie, zumindest der spärliche Rest, der noch übrig war, ein letztes Mal für ihn zusammengekommen war. Timo Tripke graute es bei der Vorstellung.
Von Bernadette hatte er nie erfahren, warum sie sich so benommen hatte. Und er hatte nie gefragt, was vermutlich nicht besser war. Vielleicht war ihr an diesem Abend bewusst geworden, dass sie weit weg sein wollte, wenn Timo so alt war wie sein Opa. Den Gedanken konnte er ihr nicht ganz übel nehmen. Obwohl er wehtat.
Es schien besser für beide, dass sie gegangen war. Die Trauer, die er trotzdem spürte, war bestimmt nur eine Art nostalgischer Reflex. So wie man alle paar Jahre neugierig ausprobierte, ob der Videorekorder noch funktionierte, obwohl man gar nicht vorhatte, etwas damit zu schauen.
Ihm ging es gut. Ach, was. Bei Timo Tripke lief es wie geschmiert. Plötzlich spross in ihm sogar die Lust auf Veränderungen. Zaghafte Ideen wurden zu konkreteren Überlegungen darüber, was er jenseits seiner stabilen Alltagsroutine heraus Neues probieren könnte.
Eine verrückte Reise vielleicht? Transsylvanien!
Ein ungewöhnliches Hobby? Geofishing oder wie diese Schatzsuche hieß!
Eine neue Liebschaft? Noch nicht verfügbar!
Oder doch? Sollte er beim Reinkommen gleich Sherlock fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte? Nur so zur Übung? Immerhin mochte er sie. Oder zumindest das, was er als ihren Charakter erahnte.
Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Von Frauen hatte er erst einmal genug.
Gestern Abend, nach seiner Rückkehr aus Kreuzthal, hatte er das Spanner-Fernglas im Keller verstaut und die Vorhänge in Bernadettes Arbeitszimmer geschlossen.
Er schämte sich. Fraglich, ob er beim nächsten Straßenfest am Wendehammer auch nur ein Wort an Christiane-Christine würde richten können.
Zudem besaß er nicht genug Material für einen Smalltalk. Was er hatte, war: »Liebe Christiane-Christine, ich weiß nicht viel über Sie, zum Beispiel nicht mal Ihren richtigen Namen, wie Sie sehen, aber ich möchte Ihnen herzlich zu ihren wundervollen, unterschiedlich großen Brüsten gratulieren«.
Sherlock saß da, wo sie morgens immer saß. Wieder erwiderte sie Tripkes Gruß nicht. So viel zum nächsten Date. Tripke bog um die Ecke und schlurfte auf dem braunen Industrieteppich mit den Plastikschamhaar-Fasern in Richtung Lehrerzimmer.
Tür zum Kopierraum: geschlossen.
Tür zur Putzkammer: geschlossen.
Tür zum Vorzimmer des Schulleiters: geöffnet.
Mist.
Tripke verlagerte sein Gewicht etwas auf die Zehenspitzen, nicht so, dass es auffiel, sollte ihn jemand beobachten, aber doch so, dass man seine Schritte weniger hörte, und versuchte gleichzeitig schneller zu gehen. Oberstudiendirektor Hanns-Jochen Steiner stand mit dem Rücken zur geöffneten Flurtür. Energisch redete er auf seine Sekretärin ein. Offenbar war ihm nicht entgangen, dass sie eine zeitsparende Tastaturkombination bei einer Tabellenkalkulation noch immer nicht anwandte, sondern weiter mit der Computermaus einen umständlicheren Bedienungsweg wählte.
»Nicht mit der Maus! Steuerung, Shift, p! Nein, Hände weg von der Maus!«
Perfektion als Manie, da war sie wieder. Noch so ein Idiot.
»Nicht mit der Maus!«
Als er den Gefahrenkorridor hinter sich gelassen hatte, normalisierten sich Tripkes Schritte wieder. Glück gehabt.
Am Lehrerzimmer tippte er den vierstelligen Code ein, öffnete und nickte denen zu, die sich heute die Parkplätze weiter vorne geschnappt hatten. Endlich, auf Tripkes Stuhl lag das vermisste Paket mit englischsprachigen Teenagerzeitschriften, die er im Internet ersteigert hatte. Damit wollte er bei der 8 Eindruck mit unorthodoxen Lehrmethoden machen.
Er musste am Ball bleiben, immerhin konnte er nicht jeden Tag Kreise malen, um die Menschen für sich einzunehmen. Auch wenn er das gerne wollte.
Noch einmal tief durchatmen und dann ging wieder alles von vorne los.
Hausboot minus fünf Tage.
Bevor Timo Tripke zu Beginn jeder neuen Schulstunde die Klasse anschwieg, griff er häufig zu einem weiteren Verfahren. Er hatte es sich bei alten Western abgeschaut. Die guten begannen mit einem Kameraschwenk, der den Handlungsort, die Figuren, ihr Milieu und die Stimmung einfing.
Der gleiche Schwenk bescherte Timo Tripke beim Betreten eines Klassenzimmers eine erste Idee, wohin die Reise in den kommenden 45 Minuten gehen würde.
Die Gesichter sagten ihm, mit wie viel Unruhe, Hormonen, Liebe, Wut, Langeweile er würde rechnen müssen. Und die Technik funktionierte. Sie brachte Sicherheit.
Doch so ein seltsames Ergebnis wie heute hatte selten vorgelegen. Die Mienen der 10a sendeten Nervosität, Spannung, Neugierde und Begeisterung. Vielleicht sogar Furcht. Diese Schüler platzten gleich.
Clever, wie er war, sah Tripke zur Decke hoch. Bestimmt stand ein Streich an. Der gute alte Wassereimer? Nein, keiner zu sehen. Oder etwas mit seinem Stuhl? Eine Reißzwecke? Sekundenkleber? Ein angesägtes Stuhlbein? Oder ein Penis an der Tafel? Nein. Da war nichts. Das übliche Anschweigen musste heute ausfallen, so viel war klar.
»Ist irgendwas?«
Kurz dachte er, sie hätten vielleicht an seinen Geburtstag gedacht und nachträglich