Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler
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Читать онлайн книгу Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler страница 19
Dieses verlotterte Ding … Lea hielt ihren Blick auf Lina gerichtet, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Und auch als sie weg war, starrte sie weiter die Tür an, hinter der sie verschwunden war. Als gäbe es noch etwas zu sehen, als gelänge es ihr, wenn sie sich nur intensiv genug bemühte, die Tür zu durchdringen, die Wände, die Mauern des Hauses, der Stadt, und dann vielleicht endgültig hinter die Dinge zu blicken, hinter die Kulissen auf die … Wahrheit. Zu finden, was sie immer schon geahnt hatte, eine Art ewige Existenz der Seele ohne dieses lästige Fleisch.
Aber nein, sie kannte ja die Wahrheit. Und es war völlig gleichgültig, wohin sie blickte. Sie kannte jeden Winkel dieses Zimmers von ihrer jetzigen Position aus genau. Wie lange lag sie schon hier? Sie wusste es nicht. Dieser Schmutz überall … Und all dieser Schmerz … Sie atmete schwer. Es gibt noch ein Wesen und es ernährt sich von mir, dachte sie. Es frisst mich von innen. Oder ist das der Tod? Sind alle anderen am Leben und ich bin tot?
Aber nein. Erinnerung heißt leben. Und ich erinnere mich daran, dass es einmal anders war. Dass es andere Zeiten gab, in denen der Tod keine Rolle gespielt hat. Er war ein Eindringling von außen, ein Feind, dem man aus dem Weg gehen konnte. Er kam nicht von innen. Aber Jella und ich wussten schon von ihm. Wir waren noch Kinder und hatten Angst, aber nicht um uns. Wir hatten Angst um Jakob, der unbedingt in den Krieg ziehen wollte. Wir hatten keine Ahnung, welcher Krieg das sein sollte. Wir wussten nicht, worum es ging. Doch Vater hatte uns gesagt, in jedem Krieg geht es um etwas, aber nie um das Wohl von Menschen.
„In diesem schon“, hatte Jakob gesagt. „Es geht um die Freiheit der Gedanken und die Selbstbestimmung der Menschen.“
Jella und ich hatten keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Ich habe es vielleicht nie ganz begriffen und bin mir bis heute nicht sicher, ob daran etwas Gutes sein soll. Und Jella brauchte keinen Krieg, niemanden, der für sie kämpfte. Sie war schon immer frei und ist es auch geblieben. Ich weiß nicht, ob ihr das gutgetan hat. Ach was, ich weiß genau, dass es ihr nicht gutgetan hat. Sie führt ein sündhaftes Leben.
Doch für Jakob war der Krieg heilsam. Als er Jahre später wiederkam, war sein sogenannter Krieg längst vorbei. Jella und ich waren da schon junge Mädchen. Ich erinnere mich an den Sommer, in dem er zurückkam. An die Farben und den Duft der Blumen, die Wärme, den Wind … Wir gingen am Fluss spazieren, alles war in Bewegung, die Blätter der Bäume schimmerten silbern. Auf ihren Nachen saßen ein paar Fischer … Nein, es war nur einer. An eines erinnere ich mich ganz genau: Er saß in seinem Boot in einer Biegung des Flusses. An dieser Stelle gab es kaum Strömung, das Wasser war dunkelgrün, gefärbt vom Wiederschein der Bäume und Büsche am Ufer. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er seine Angel an und ein großer Fisch mit blauem Rücken und weißem Bauch schnellte an der Leine durch die Luft. Er zappelte und wehrte sich, doch der Fischer zog erbarmungslos seine Leine weiter ein, nahm einen Kescher vom Boden seines Nachens und brachte ihn an Bord. Mit einer Handbewegung entfernte er den Haken, legte den Fisch in einen Wassereimer und warf die Angel wieder aus. Dann verharrte er in derselben reglosen Stellung wie zuvor, seine braunen Arme auf die Knie gestützt starrte er ins Wasser, als würde er träumen. Erst als Jella ihn ansprach, hob er den Kopf.
Jakob hatte sich verändert. Er kümmerte sich nicht mehr um Freiheit, um die Politik oder die Menschheit. Er blieb daheim. Das war das Beste, was er machen konnte. Lange Zeit hat er nicht mit uns gesprochen. Er hat mir nie erzählt, was geschehen ist, und ich wollte es auch nicht wissen. Jella schon. Mir genügte es zu sehen, dass er ein anderer Mensch geworden war. Einer, der den höheren Willen akzeptierte und der nicht mehr versuchte, der Welt den seinen aufzuzwingen. Wie vermessen er gewesen war …
Jetzt gibt es auch keine Geräusche mehr. Das ist nicht der normale Tod. Der normale Tod tötet doch nicht alles. Er lässt immer etwas übrig. Oder bin ich die Einzige, die er übriggelassen hat? Zusammen mit all dem Schmutz, den besudelten Laken … Das viele Wasser, die Mittelchen und Pulver, das unverdaute Essen, das ich erbreche, der Schlamm, in den ich mich auflöse, das Blut, das mir von innen in die Augen steigt … Es ist ihnen einfach zu viel geworden.
Es ist unmöglich, das Leid des Körpers von dem der Seele zu trennen, hat Rabbi Samuel gesagt. Das Leid des Körpers schlägt sich immer auf die Seele und das Leid der Seele immer auf den Körper nieder. Es muss möglich sein, das Leid des Körpers von der Seele zu trennen. Wo liegt die Ursache? Gibt das schwarze Blut mir diese Gedanken ein? Oder verursacht die Seele das schwarze Blut? Was fragt er mich das? Ich liege hier wie ein Brett und um mich herum geht eine Welt zugrunde. Ein Ort der Finsternis.
Aber dieses ganze Gejammer bringt ja nichts. Es wird wirklich Zeit, dass ich wieder auf die Beine komme. Es gibt doch niemanden, der den Haushalt führt. Dieses verlotterte Mädchen macht nie richtig sauber. Alles bleibt liegen. Nichts wird gemacht. Ich würde ja rufen, aber … Im Zweifel sind die Menschen keine Hilfe …
Schaum stieg aus Leas Mund auf. Sie machte zwei schwere Atemzüge, ein paar kleine Blasen bildeten sich, ihre Hand verkrampfte, mit der sie vor ein paar Minuten noch unbarmherzig Linas Haar gepackt hatte. Ihr Blick gefror und blieb an einer Stelle an der Decke hängen, die sich durch nichts von jeder anderen Stelle an der Decke unterschied.
„… und dann entdeckten wir das zerbrochene Fenster. Irgendjemand hatte es eingeschlagen und geöffnet, ganz offensichtlich, um ins Kontor einzusteigen. Simon hat behauptet, das Fenster wäre schon lange kaputt, aber ich frage euch: Woher will er denn das wissen?“ Ava saß auf der Couch im Salon und sah die anderen triumphierend an. Um sie herum saßen und standen drei junge Damen und vier Herren: Hans, Eduard, Simon und Herr Stange. Hans allerdings hatte sich mit einer Teetasse in der Hand etwas abseits gestellt und schien ihrer Erzählung nur mit halbem Ohr zu folgen. Aber immer wieder warf er Ava einen flüchtigen Blick zu.
Simon hatte in einem Sessel gegenüber seiner Schwester Platz genommen und winkte bei ihren Worten unwillig ab. Eduard, Herr Stange und die drei jungen Damen neben ihm schienen weit größeres Interesse an Avas Geschichte zu haben. Herr Stange und die Alsberg-Schwestern waren regelmäßig zu den Salons von Ava und Simon eingeladen. Ina und Doris Alsberg gehörten zu einer der angesehenen Familien in Waldbrügg. Hans und Eduard hielten nicht sehr viel von ihnen. Hans behauptete steif und fest, sie teilten sich nur ein Gehirn. Wenn überhaupt … Aber es gehörte eben, wenn es vielleicht auch nicht gerade eine Pflicht war, doch zum guten Ton, die Schwestern einzuladen. Und dass sie regelmäßig erschienen, war für die Mandelbaums durchaus von gesellschaftlichem Wert. Hans war allerdings auch der Meinung, sie tauchten bei Avas Gesellschaften hauptsächlich deshalb auf, weil sich ab und zu auch Andreas von Bergen dort blicken ließ, der bei seinem Vater Baron von Bergen nicht weit von Waldbrügg auf dessen Herrensitz lebte. Baron von Bergen hatte in der Kavallerie als Oberst der Dragoner gedient und sich während des Deutsch-Französischen Krieges einige Orden verdient. In der näheren Umgebung der Stadt gab es nicht viel Adel, was wohl zudem einer der Gründe dafür war, dass die von Bergens von der städtischen Gesellschaft sehr hofiert wurden. Heute war Andreas von Bergen allerdings noch nicht aufgetaucht und bei jedem Geräusch, das aus der Richtung der Tür kam, hoben die Alsberg-Schwestern ruckartig die Köpfe wie Enten auf einem See. Hans quittierte es jedes Mal mit einem verächtlichen Lächeln.
Die dritte Dame im Raum war Judith Blum, ein erst vor Kurzem mit ihren Eltern nach Waldbrügg gekommenes junges Mädchen aus der jüdischen Gemeinde. Ava hatte sich bald mit ihr angefreundet und sie ein wenig unter ihre Fittiche genommen. Sie versuchte, Judith die Eingewöhnung in ihre neue Umgebung zu erleichtern.