Die fliegende Schule der Abenteurer. Thilo
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die fliegende Schule der Abenteurer - Thilo страница 5
Nachdem er sicher gelandet war, spürte Belle, wie trocken ihre Kehle war. Hatte sie wirklich die ganze Zeit mit offenem Mund zugehört? Die Nerdigkeit ihres Nachbarn schien eindeutig auf sie abzufärben.
Dann trat Catherine Noir ans Rednerpult.
„Willkommen ihr Abenteurer, Lehrer, Wissenschaftler, Mitglieder des ACE“, eröffnete sie ihre Rede. „Vor mehr als drei Jahrhunderten geschah auf einer indonesischen Insel etwas Außergewöhnliches: Bartholomeus van Robbemond, bis zu jenem Tag ein gewöhnlicher Pirat und Dieb, hatte genug davon, Schätze zusammenzuraffen. Er machte weiter Jagd auf außergewöhnliche Artefakte, magische Gegenstände und unerklärliche Phänomene. Doch nicht, um sie eigennützig auszubeuten. Im Gegenteil. Er sammelte all das, um ihren Zauber für die Nachwelt zu bewahren und vor dem Zugriff der Falschen zu schützen – vor allem vor seinem Dauerfeind Diablo Cortez, genannt der Bulle.“
Noir verließ ihren Platz hinter dem Pult und schritt am Rand der Bühne entlang. „Viele dieser Stücke ruhen seitdem sicher im Tresorraum unter Ihren Füßen. So auch der berühmteste Gegenstand, der diesen Wandel in van Robbemond auslöste und 1716 in der Gründung des ACE gipfelte: der Feuertiger. Ein Kerim, ein gebogener Dolch also, dessen Wert unschätzbar ist. Nicht wegen seines goldenen Griffs. Oder der eingefassten Edelsteine. Es ist die magische Kraft des Feuertigers, die ihn einzigartig macht. Der Legende nach ist der Mensch, der ihn trägt, unverwundbar. Mehr noch, wie van Robbemond selbst in sein Logbuch schrieb: Es reicht, die Klinge auf jemanden zu richten. Schon werden seine Knochen zu Staub und die Haare zu Asche.“
Die Präsidentin blieb stehen. „Aber jetzt habe ich lange genug geredet, nun sollen Sie ihn auch mit eigenen Augen zu sehen bekommen. Nur einmal im Jahr wird er aus seinem Käfig im Keller der Burg herausgelassen. Meine Damen und Herren, hier ist der Feuertiger!“
Belle wollte begeistert losklatschen. Doch der Rest der Gesellschaft schwieg gebannt. Die Blicke von allen fünfhundert Anwesenden richteten sich auf einen weinroten Vorhang, der sich leicht hin und her bewegte. Endlich wurde er zur Seite geschlagen. Die gesamte Menge zog wie ein einziges Lebewesen geräuschvoll die Luft ein.
Eine riesige Echse schritt breitbeinig in den Saal. Sie war gute zwei Meter lang – ein Komodowaran, wie Belle erkannte. Nur war er nicht grünlich grau, sondern schneeweiß. Es musste ein Albino sein!
Der Waran stapfte an der vordersten Reihe der Zuschauer entlang. Züngelnd drehte er seinen Kopf mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Auf seinem Rücken war eine hölzerne Kiste mit dem Logo des ACE festgezurrt, die im Takt seiner Schritte sanft schaukelte.
„Harry!“, riefen die älteren Schülerinnen und Schüler.
„Behandelt ihn mit Respekt!“, ermahnte Noir die Akademiemitglieder. „Harry ist schließlich schon über 230 Jahre alt.“ Und er verspeist lebendige Ziegen mit drei Bissen … fügte Belle in Gedanken hinzu.
Vielleicht lag es an diesem biblischen Alter, jedenfalls ließ sich die imposante Echse vom ganzen Rummel um sie herum nicht stören. Wie wohl auch in den Jahrzehnten zuvor ging sie schnurstracks zur Bühne und blieb vor dem Tisch mit der Samtdecke stehen.
Im Publikum standen eine Frau und ein Mann auf, zusammen wohl nicht viel jünger als Harry. Gemeinsam folgten sie der Echse.
„Wie in jedem Jahr ist es die ehrenvolle Aufgabe der beiden ältesten Mitglieder des Clubs, die Schatulle von Harry entgegenzunehmen“, sprach Noir weiter. Die beiden Abenteurer zogen sich weiße Handschuhe über und hoben die Truhe auf den Tisch.
„Öffnen allerdings werde ich die Kiste, denn der einzige Schlüssel ist … hier!“
Catherine Noir griff an eine Kette, die an ihrem Gürtel befestigt war und zog einen schweren Schlüssel aus ihrer Tasche. Als sie ihn in die Höhe hob, passierten zwei Dinge gleichzeitig: Die Gäste klatschten begeistert – und das Licht im Saal ging aus.
Belle pfiff auf den Fingern, so sehr riss sie die perfekte Inszenierung rund um den Feuertiger mit: die Legende, der Waran, die alten Mitglieder, der Schlüssel und nun als Höhepunkt die Dunkelheit.
Auch die Gäste um Belle herum jubelten und schrien. Erst nach zwei, drei Sekunden merkte Belle, dass die Stimmen gar nicht fröhlich klangen. Stühle fielen um, Menschen liefen durcheinander. Und über allem lagen die verzweifelten Rufe von Catherine Noir.
„Licht, wir brauchen sofort Licht!“, brüllte sie ins Mikrofon. „Und haltet die Türen verschlossen!“
Jetzt erst dämmerte Belle, dass die Dunkelheit gar nicht Teil der Präsentation war. Nach einer halben Ewigkeit blitzten einzelne Strahler auf. Catherine Noir stand noch immer auf der Bühne. Sie umklammerte den Schlüssel mit ihrer Faust. In ihrer andern Hand hielt sie einen silbernen Kugelschreiber, aus dem vorne eine Nadel ragte. Den Feuertiger würde sie zur Not mit ihrem Leben verteidigen, das erkannte jeder im Saal. Doch dazu würde es nicht mehr kommen, denn die Truhe auf dem Tisch neben ihr war geöffnet – und leer. Auch Belles Herz schlug schneller. Der Feuertiger war gestohlen worden! Vor ihrer aller Augen! Und wo war eigentlich Oliver? Belle hatte das ungute Gefühl, dass sie sich um ihn kümmern musste.
„Hierher!“, Belle reckte den Hals. Oliver stand am Rand des Saals vor dem Notausgang im Halbdunklen. Er hob den Arm, als wollte er seinen Lehrer im allerletzten Moment anbetteln, ob er mal kurz aufs Klo dürfte.
„Hierher!“, rief er mit piepsiger Stimme. „Hallo, hallo, kommt alle hierher!“
Doch in dem Durcheinander achtete niemand auf ihn. Belle aber sah die Furcht in seinen Augen.
Sofort drängelte sie sich zu ihm durch.
Oliver kniete jetzt am Boden. Vor ihm lag ein zusammengerollter Mensch mit einer schwarzen Sturmhaube über dem Kopf. Aus seinem Rucksack lugte der Griff des Feuertigers.
Der Gestalt hinter der Bühne!, schoss es Belle durch den Kopf. Mit beiden Händen rollte sie ihn auf den Rücken. Belle zuckte erschrocken zurück. Auf der Vorderseite der schwarzen Maske waren zwei funkelnde Pantheraugen aufgedruckt. Sie hatten den berühmtesten Dieb der Gegenwart vor sich!
„Los, zieh ihm die Maske runter!“, forderte Oliver sie auf.
Als Belle nicht reagierte, streckte er selbst seine Finger nach dem Phantom aus. Doch in diesem Moment zerrten ihn die beiden Wachen von dem bewusstlosen Dieb herunter.
„Bist du lebensmüde, Junge?“, herrschte der größere von ihnen Oliver an. „Du weißt doch, was mit dir passiert, wenn die Klinge auf dich zeigt!“
Oliver nickte wie der Schulstreber, der beim Abschreiben erwischt worden war.
Catherine Noir bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Bringt ihn in mein Büro“, kommandierte sie. „Fesselt ihm die Hände – und lasst ihn keine Sekunde aus den Augen. Ich komme gleich hinterher.“
Die Wachmänner legten sich die Arme des Phantoms über die Schultern und schleiften ihn aus dem Festsaal.
Die Präsidentin stieg auf einen Stuhl.