Engadiner Abgründe. Gian Maria Calonder
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Читать онлайн книгу Engadiner Abgründe - Gian Maria Calonder страница 5
»Das Wetter soll kippen, habe ich gehört.«
»Erst in der Nacht auf Sonntag. Laut Flugplatzwetterdienst. Wir handeln mit Fakten, Capaul, nicht mit ›soll‹ und ›habe ich gehört‹. Apropos, deine Handynummer. Ich kann dich nicht jedes Mal ausrufen lassen.«
»Ich habe kein Handy.«
Linard war einen Augenblick sprachlos. »Wie, ›kein Handy‹? In welchem Jahrhundert lebst du?«
Das wäre der Moment gewesen, sich abzuwenden und zu gehen. Er verpasste ihn. »Ich gehe gleich«, versprach er. »Aber habt ihr nicht auch eine Bescheinigung, die ich ins Auto legen kann, damit ich nicht ewig einem Parkplatz nachrenne? Auf den Gebührenparkplätzen zahlt man sich ja dumm und dämlich.«
»Du meinst so was wie das ›Arzt im Dienst‹-Schild?«
»Ja.«
»Du verkennst die Situation, du bist nicht im Dienst.«
»Was dann?«
»Du tust mir einen Gefallen, das ist alles.«
Also parkte er auch jetzt, zurück in Zuoz, wieder am Bahnhof und stieg ein gepflastertes Weglein ins Dorf empor. Als er Rainer Pinggeras Haus erreichte, war die Sonne hinter den Dächern verschwunden, und gleich wurde es empfindlich kalt. Mehrmals betätigte er die alte Zugglocke. Da er nichts hörte, nahm er an, dass sie nicht funktionierte, und drückte die Klinke. Die Tür war verriegelt. Er sagte sich, dass die Mieter eine eigene Klingel haben müssten, womöglich gab es einen zweiten Eingang. Er ging ums Haus, doch er fand nichts. Nachdem er abermals geklingelt und versucht hatte, die Tür zu öffnen, sah er hinter den Gardinen eines kleinen Erkers, der spitz wie eine Nase aus der Hausfassade in die Gasse hinausragte, den Alten hocken. Er starrte auf ihn herab, so schien es zumindest.
Capaul rief: »Ich hätte noch ein paar Fragen. Sehen Sie, ich habe jetzt auch einen Ausweis.« Aber Pinggera rührte sich nicht.
Währenddessen war Rudis Mercedes die Gasse hinabgerollt, so geräuschlos, dass Capaul ihn erst bemerkte, als die Hitze aus der Kühlerhaube an sein Bein drang. Sobald Rudi ausstieg, öffnete auch der Alte das Fenster und rief: »Gut, dass du kommst, der stellt mir wieder nach.«
Rudi nahm Capaul kurz den Ausweis aus der Hand und betrachtete ihn lächelnd, dann rief er hoch: »Er ist wirklich Polizist. Und wenn der Staat dich würde töten wollen, Onkelchen, könnte er es viel leichter haben.«
»Wie denn?«, fragte Capaul verwundert.
»Ach, Alte seines Schlags muss man nur in ein Heim stecken, und dafür findet sich immer ein Vorwand. Sie sind wie Füchse, eher beißen sie sich die Pfote ab, wenn sie in die Falle tappen, als dass sie sich einsperren lassen.«
Capaul sagte darauf nur: »Ihr Auto ist vorschriftswidrig geparkt.« Es stand mitten in der Gasse.
Rudi winkte ab. »Das ist kein Problem, hier kennen mich alle. Wenn einer durchwill, meldet er sich. Jetzt kommen Sie, Sie sehen ganz durchgefroren aus.« Er schloss die Tür auf und führte ihn ins Haus. »Ich bringe den Polizisten«, rief er. »Er will dir helfen, damit die Versicherung den Schaden zahlt.« Dann fragte er Capaul: »Das stimmt doch, oder?«
Capaul zögerte. »Das ist einer der Zwecke des Rapports.«
Sie zogen die Schuhe aus und betraten eine enge Stube. Es sah aus, als hätte seit dem Krieg die Zeit stillgestanden: geklöppelte Deckchen auf den Armlehnen der Sessel, die Deckenlampe noch mit Kerze, das Linoleum mit Messingleisten und zahllosen Schräubchen verlegt. Gleichzeitig war alles penibel sauber gehalten, es roch nach Schmierseife und Javelwasser.
»Putzen Sie noch selbst?«, fragte er den Alten, während er niederkniete, um das modernste Objekt im Raum zu betrachten, einen Röhrenfernseher von Blaupunkt, wohl eines der ersten Farbmodelle.
»Natürlich, wer sonst?«
»Das stimmt nicht ganz, Onkelchen. Lina hilft dir.«
»Schweig du still, Lina geht die Polizei nichts an.«
Capaul notierte Schwarzarbeit?, doch nur um der Ordnung willen. »Wer räumt denn auf?«
»Ich«, versicherte der Alte. »Die Augen wollen nicht mehr, ohne Ordnung wäre ich am Arsch.«
Rudi lachte. »Du warst schon immer ein Pedant.«
»Ja, ja, ja.« Der Alte winkte missmutig ab. »Was muss ich denn jetzt erzählen?«
»Wie es war«, bat Capaul.
»Wobei du nicht sagen solltest, dass du vergessen hast, das Öfelchen auszuschalten, Onkel, sondern dass du die Stecker verwechselt hast.«
»Welche Stecker?«
»Du wolltest Licht machen, deiner Augen wegen, stattdessen hast du das Öfelchen eingesteckt, und dummerweise war es noch an.«
»Aber ich habe keine solche Lampe im Stall. Keine, die ich einstecken könnte.«
»Dann hast du dich eben geirrt, das kommt vor. Du hast dir kurz eingebildet, du seist im Schlafzimmer. Es geht nur darum, dass diese Öfelchen inzwischen verboten sind. Die Versicherung zahlt nichts, wenn du das Öfelchen mit Absicht verwendet hast.«
»Habe ich auch nicht. Aber ich verstehe dich nicht. Das Einzige, was kaputtgegangen ist, ist dieses Öfelchen. Was soll die Versicherung dann überhaupt bezahlen, wenn nicht das Öfelchen? Und wozu bitte habe ich Licht gebraucht?«
»Du wolltest doch die Klobrille reparieren«, erinnerte ihn Rudi. Zu Capaul sagte er: »Er hat noch ein Plumpsklo, die Brille ist aus Holz, und als er auf sie gestiegen ist … Wieso eigentlich?«
»Was ›wieso‹?«
»Wieso bist du auf die Brille gestiegen? Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn du ins Klo gefallen wärst.«
»Die Glühbirne ist kaputt. Dort habe ich nämlich wirklich eine Lampe, nur ist dauernd die Birne kaputt.«
»Ich wechsle sie dir nachher. Nächstes Mal steigst du nicht mehr hoch, lass einfach die Tür auf, dann scheint die Straßenlampe herein.«
Rudi ging hinaus, um sich die Sache anzusehen. Rainer Pinggera rief ihm nach: »Ich habe eine Taschenlampe. Aber kannst du beim Licht einer Taschenlampe sehen, ob dein Hintern sauber ist? Ich nicht.«
Capaul ging Rudi hinterher. Das Klo lag am Ende eines schmalen Balkons, eine leere Glühbirnenfassung hing direkt über der Schüssel.
»Wunderbar«, sagte Capaul gerührt. »Überhaupt ein wunderbares Haus.«
Rudi hatte nicht die Lampe untersucht, sondern am Brett gerüttelt, auf dem die Brille gelegen