Engadiner Abgründe. Gian Maria Calonder

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Engadiner Abgründe - Gian Maria Calonder

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      »Ihn nerven alle. Nimm seine Launen nicht zu ernst. Er kommt mit den Leichen in unserem Beruf nicht klar, und das lässt er an jedem aus. Ich glaube kaum, dass er es bis zum Gefreiten schafft.« Den zwei Zacken auf den Schulterpatten nach war Jon Luca schon Korporal. »Wie steht es mit dir, hast du Probleme mit Toten?«

      »Bisher nicht«, sagte Capaul.

      »Hast du überhaupt schon welche gesehen?«

      »Keine Verkehrstoten.«

      »Sondern?«

      Statt zu antworten, deutete Capaul auf den Bildschirm. »Wenn du willst, kannst du mir diktieren, und ich tippe.«

      Jon Luca lachte und machte Platz. »Du bist mehr einer von der maulfaulen Sorte, was? Dafür lade ich dich nachher auf eine Cola ein. Du musst sie allerdings holen.«

      Nachdem das Protokoll verfasst war, erklärte Capaul jedoch: »Ich bin müde. Die Höhe. Oder das Wetter. Ich gehe mal lieber zu Bett.«

      »Um sieben Uhr abends?«

      »Ich habe auch Kopfweh.«

      Tatsächlich hatte die Arbeit am Computer es wieder befeuert. Er nahm einen Apfel aus dem Früchtekorb, der sollte ihm das Abendbrot ersetzen. Doch zuvor musste er noch das Parkplatzproblem lösen.

      »Polizeistunde«, rief Bernhild von drinnen, als er die Tür zum Wassermann aufstieß.

      »Ich bin es nur«, sagte er und schob den Kopf durch den Vorhang.

      »Dann stimmt es ja sogar«, witzelte sie. »Polizeistunde ist das Einzige, was diese Bauern verstehen. Sage ich ›Geschlossen‹, quetschen sie sich erst recht rein, weil sie denken: ›Zwei, drei kleine Blonde, danach habe ich es mit diesem Mädel lustig.‹«

      Sie saß am Stammtisch und rechnete Belege zusammen.

      »Ich gehe gleich hoch«, versicherte er. »Aber wo kann ich das Auto parken?«

      »Wo steht es denn jetzt?«

      »Beim Bahnhof, aber dort muss man im Voraus zahlen, und ich hatte kein Kleingeld mehr.«

      »Egal, lassen Sie es stehen, nach sieben Uhr kontrolliert keiner mehr. Morgen früh stellen Sie es bei mir hinters Haus, unters Schild mit dem Parkverbot, das habe ich da hingemacht. Ich muss aber noch mit dem Lieferwagen durchkommen. Und jetzt setzen Sie sich gefälligst, Sie hatten bestimmt noch kein Abendessen. Ich wärme uns Reste, geht aufs Haus.«

      Da trotz des Apfels sein Magen knurrte, nahm er dankend an. Während sie in der Küche war, benutzte er kurz das Bad. Bernhild hatte zwei Handtücher auf die Kommode gelegt, auf jedes davon eine kleine Seife in Form einer Rosenblüte, die wieder je ein Zettelchen beschwerte: Auf einem stand Capaul, auf dem zweiten Unterpertinger.

      »Haben Sie noch einen zweiten Gast?«, fragte er, als er zurückkam. Sie hatte aus den Spaghetti vom Mittag, einer Dose Mais und Mayonnaise etwas wie Nudelsalat gemacht, dazu gab es eine Essiggurke und Brot aus der Plastiktüte.

      »Wein?« Sie schenkte zwei Gläser mit Merlot aus der Literflasche ein, dabei erklärte sie: »Unterpertinger, das bin ich. Es ist eben auch mein Bad, aber das reibt man nicht gern den Gästen unter die Nase.«

      »Dann Entschuldigung, dass ich gefragt habe.«

      Sie kicherte wie ein Schulmädchen. »Quatsch, für dich bin ich sowieso die Bernhild. Eigentlich für die meisten. Wie nennen sie dich?«

      »Capaul.« Er begann zu essen.

      »Ich verstehe, ein Polizist hat ja auch andere Stammgäste«, witzelte sie. »Aber deine Freunde?«

      Er zögerte. »Capaul.«

      Sie lachte. »Deine Mutter?«

      Er probierte nochmals etwas Salat, dann legte er die Gabel beiseite, wischte sich den Mund ab und spülte ihn mit einem kleinen Schluck Kochwein aus. Er studierte die Aussicht aus dem Fenster – es war die nachtgraue Fassade eines Nachbarhauses – und fragte: »Kennen Sie einen Pinggera Rudi?«

      »Wir waren beim Du.«

      »Kennst du einen Pinggera Rudi?«

      »Ja, natürlich. Rudi ist seit dreißig Jahren unser Goldjunge. Nein, unser Silberjunge. Kaum einer hat so viel fürs Oberengadin getan wie er. Schön, mit der Olympia-Kandidatur hat er es überzogen, aber das verzeiht man ihm gern. Bestimmt haben sogar viele, die eigentlich dagegen waren, nur ihm zuliebe Ja gestimmt. Obwohl wir wirklich nicht das Geld haben, uns solche Experimente zu leisten.«

      Capaul bat um noch eine Gurke, dann fragte er: »Woher hat er denn sein Geld?«

      »Ja, das wüssten alle gern. Ich habe gehört, auf seiner Visitenkarte steht Gesprächspartner. Vielleicht bezahlen ihn gewisse Leute wirklich dafür, dass er dabei ist. Er macht eben eine gute Figur, er gibt einem Anlass das gewisse Etwas. Man muss ihn einfach mögen, er ist ein Strahlemann. Und er ist einer von uns, irgendwie steht er stellvertretend für das Oberengadin: Wir sind ja nicht so reich, wie wir tun. Wir haben auch nicht die höchsten Berge. Wir geben nur an, und jeder spielt das Spiel mit. Gleichzeitig schämen wir uns immer ein bisschen für uns. Wir denken, das muss doch auffliegen, dass wir in Wahrheit nur ein Bauernkaff im schnieken Anzug sind. Aber soll ich dir was sagen? Auch die meisten Reichen, die hierherkommen, um Ferien zu machen, sind nur Bauern im schnieken Anzug. Und mit Ehrlichkeit wurde keiner von ihnen reich. Deshalb mögen sie es hier wohl auch.«

      Inzwischen hatte Capaul auf Rudis Visitenkarte nachgesehen, es stimmte. R. Pinggera, Gesprächspartner, stand da in silberfarbenen Lettern. »Wie war Rudi unehrlich?«, fragte er.

      Bernhild tat ihm ungefragt eine dritte und vierte Essiggurke auf den Teller, dafür war er sehr dankbar, dabei sagte sie: »Rudi hat gar keine Olympiamedaille. Sie wurde ihm aberkannt. Er wollte Gold, nicht Silber, und hat deshalb nach dem Rennen behauptet, der Sieger, ein Österreicher, hätte an einer Stelle, an der keine Kamera stand, ein Tor ausgelassen. Die Streckenposten hatten aber nichts gesehen. Dafür sagte dann der Österreicher: ›Messt lieber mal dem Pinggera seine Bindungsplatten nach.‹ Und die waren zwei Millimeter zu hoch, oder zwei Hundertstel oder zwei Tausendstel. Da konnte er die Silberne auch abgeben, und das Schlimmste: Jetzt waren zwei Oberösterreicher auf dem Podest und ein Südtiroler.«

      »Was ist daran schlimm?«

      Bernhild lachte fröhlich. »Dass wir in Tat und Wahrheit alle eine Familie sind, Tiroler, Südtiroler, Engadiner. Pinggera ist sogar ein Südtiroler Name. Aber wir neiden einander alles. Wer hat die schöneren Berge, mehr Schnee, mehr Gäste? Und vor allem: Wer hat die besseren Sportler?« Sie trug ab. »Wie kommst du überhaupt auf den Rudi?«, rief sie aus der Küche. »Ist ihm etwas passiert?«

      »Nein, seinem Onkel. Und er hat mich zum Skifahren eingeladen, mit dem Hubschrauber.«

      Sie kam mit zwei Schnäpschen wieder. »So läuft das eben. Wenn du geschickt bist, kannst du dir hier oben als Polizist bestimmt ein gutes Leben machen. Einen Hubschrauberflug kann ich dir nicht bieten, aber wenn du magst, ich habe oben ein kuscheliges Sofa. Warum sehen wir uns nicht den Kommissar-Brunetti-Film an, und danach haben wir etwas Spaß?«

      »Ich fand es schon spaßig«, versicherte Capaul. »Jetzt muss ich ins Bett.«

      Sie

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