Engadiner Abgründe. Gian Maria Calonder

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Engadiner Abgründe - Gian Maria Calonder

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locken, oder? Morgen früh?«

      »Hast du morgen nicht geöffnet?«

      »Das wäre vergebene Liebesmüh, samstags ist sowieso nur der Stammtisch besetzt, und vor dem ersten Schnee sind alle auf Trab, die einen müssen noch ernten oder mähen, die anderen bringen Jauche aus. Dazu kommt, dass ich noch die Sommerreifen draufhabe, die Winterreifen sind durch. Wer weiß, wann die Straßen wieder frei sind.«

      »Ich wollte eigentlich auf die …«, er blätterte im Blöckchen, »… auf die Padellahütte. Dort ist Kehrausparty.«

      »Na also, ich wusste doch, im Grunde bist du ein fröhlicher Gesell. Wenn das eine Einladung ist, nehme ich sie gern an. Und wenn du morgen ausgeschlafen bist, hast du ja vielleicht auch Lust, mit mir zu shoppen.«

      Aus dem erholsamen Schlaf wurde nichts. Er versuchte, im Kopf den Bericht in drei Sätzen zu formulieren, und bekam ihn nicht hin. Rainer Pinggera entdeckte Feuer in seinem Stall. Er hielt es mit einem Gartenschlauch in Schach, und die Feuerwehr war schnell vor Ort, bestand streng genommen aus nur zwei Sätzen, und ersetzte er das Komma durch einen Punkt, holperte es furchtbar. Zudem schien ihm das Ganze zu knapp. Als Rainer Pinggera den Heustall betrat, um eine defekte Toilettenbrille zu reparieren, entdeckte er, dass ein Heizofen Altpapier in Brand gesetzt hatte. Er griff zum Gartenschlauch und hielt das Feuer in Schach, bis die Feuerwehr kam. Das war ausführlicher, aber nun waren es entschieden nur zwei Sätze. In beiden Versionen schien ihm auch etwas zu fehlen, sogar mehreres: Pinggeras Mordverdacht und die Tatsache, dass er – trotzdem oder eben deshalb? – auf einen Polizeirapport verzichtete.

      Offenbar wusste er einfach noch zu wenig, um den Fall, der kein Fall war, abzuschließen. Wie immer legte er sich auf seine rechte Seite, um kurz vor dem Einschlafen auf die Linke zu wechseln, doch er hatte das Fenster einen Spalt geöffnet gelassen, und nun zog es ihm in den Nacken. Er schloss das Fenster, danach hielt ihn der Gestank wach. Im Halbschlaf war er überzeugt, der Teppich, die Matratze oder beides sonderten giftige Dämpfe ab. Umso mehr freute er sich, als ihm einfiel, dass er viel zu wenig getrunken hatte. Auf der Toilette trank er vom Hahn, und zurück in seinem Zimmer, entdeckte er ein an die Tür geschraubtes Klapptischlein. Es ließ sich zwar nur ausklappen, während die Tür geschlossen war. Doch so lange konnte er darauf seine Uhr und zwei, drei Dinge legen, die ihm wertvoll waren, wie etwa ein Kettchen aus Lotussamen aus dem kleinen Nachlass seiner Mutter. Das Zimmer gewann dadurch enorm an Wohnlichkeit.

      Als Capaul zum Frühstück kam, saß Bernhild am Stammtisch und war dabei, Aromat in den Gewürzkörbchen nachzufüllen. Ihn hatte sie ganz auf die andere Seite der Stube gesetzt. »Ich selbst bin ja ein Mensch, der beim Frühstück seine Ruhe will«, sagte sie. Dafür hatte sie ihm ein mit Tesafilm verklebtes Klarsichtmäppchen neben den Teller hingelegt. Es enthielt einen Ausschnitt aus einer Boulevardzeitung, dem Blick wohl, und zeigte ein barbusiges Seite-3-Girl. Offensichtlich war es schon durch viele Hände gegangen. Capaul warf nur einen kurzen Blick darauf, dann öffnete er eine der Gerberkäse-Ecken und strich sein Brot.

      Bernhild hatte ihm Kaffee gebracht, dann war sie dazu übergegangen, Maggi-Fläschlein aufzufüllen. Das war eine diffizile Angelegenheit, bei der sie immer wieder die Zunge vorschob und vor sich hin murrte. Ganz nebenbei bemerkte sie: »So rein körperlich habe ich mich ja seit damals kaum verändert.«

      Nun las Capaul auch die Bildlegende: Bernhild (19) ist Kellnerin aus Leidenschaft. Wo sie serviert, bleibt kein Mund trocken.

      »Hat die Zeitung dafür bezahlt?«, fragte er.

      Schweigend stand Bernhild auf, nahm seine Tasse und ließ einen zweiten Kaffee aus der Maschine, dann setzte sie sich neben ihn.

      »Wenn man so ein Bild sieht, Capaul, dann sagt man: Donnerwetter. Oder: Tolle Brüste. Oder: Mensch, da hab ich was verpasst. Oder: So was Süßes hätte ich ja auch gern mal in der Falle. Klar?«

      »Donnerwetter«, sagte er folgsam.

      »Ist das alles?«

      »Donnerwetter, damals hattest du noch lange Haare.«

      »Ich habe auch jetzt lange Haare, Dösel. Hast du überhaupt hingesehen?«

      »Tatsächlich, waren sie denn damals auch schon rot?«

      Sie nahm das Mäppchen an sich und stand kommentarlos auf. Nachdem sie die Gewürzkörbchen auf die Tische verteilt hatte, fragte sie: »Brauchst du noch was? Ich fahre dann sonst jetzt los. Ich nehme nicht an, dass du mitkommen willst.«

      »Oh doch, eigentlich schon, also zumindest, wenn du mich ans Steuer lässt. Dein Lieferwagen hat doch sicher Gangschaltung, die muss ich noch üben.«

      Ihr rostroter oder vielleicht auch nur rostiger Citroën Jumper war eine Herausforderung für sich mit seinem ausgeleierten Getriebe. Die Gänge sprangen öfters raus, und die Bremse griff nur, wenn Capaul mit voller Kraft aufs Pedal trat.

      Samnaun war ein entseeltes Dörfchen mit einer stereotypen Einkaufsmeile, in der Edelmarken mit Sonderangeboten lockten. Etwas außerhalb des Dorfs erhob sich eine große Warenhalle mit den sonderbarsten Artikeln für Hotellerie und Gastronomie, von der Hundewaschanlage bis zum Serviettenhalter in Raketenform.

      Bernhild kannte sich aus und steuerte gleich die relevanten Regale an. »Tomaten«, sagte sie etwa, und Capaul dachte: Schön, schnappen wir uns die Tomaten, doch dann öffnete sich vor ihm eine fast endlose Galerie an Dosen, Tuben und Einmachgläsern unterschiedlichster Herkunft und Qualität. Capaul lernte, den Preis von Konserven nach ihrem Einlagegewicht zu beurteilen und eingebeulte Dosen entweder zurückzustellen oder im Preis herunterzuhandeln. Er lernte, Kaffeesorten nach ihrem Duft zu beurteilen. Dazu stach Bernhild mit einer Stecknadel, die sie extra dafür am Revers mitführte, ein Löchlein ins Paket: »Guter Kaffee«, sagte Bernhild, »riecht wie Pipi auf der Haut.« Er erfuhr, dass Steinpilzsauce keine Steinpilze enthält, sondern ein Tubenextrakt lettischer Herkunft, dazu Rahmfix und Shiitakepilze, und er lernte, Kochwein von Tafelwein zu unterscheiden. Am Vorabend hatten sie doch Tafelwein genossen, Kochwein verkaufte sich per Gallone. Er erfuhr endlich, dass in Kaffeerahm kein Rahm steckt, sondern Abfallmolke, und dass Handwerker diese Abfallmolke echter Milch im Kaffee ebenso vorziehen wie sogenanntes Sägemehl dem echten Parmesan.

      Als sie zwischen Lasagneblättern und Kehrbesen für Kinder schließlich einen Sonderposten Henna entdeckten, brachte sie ihm außerdem bei, dass die Wahl der perfekten Haarfarbe in keiner Weise Geschmackssache ist, sondern vom Hautton, der Augenfarbe und sogar der Lippenform abhängt: Je voller die Lippen, desto dunkler die Färbung. Bernhilds perfekter Farbton war leider schon aus.

      Das viele neue Wissen machte Capaul regelrecht beschwingt. Der Dämpfer kam erst, als ihm sein Chrysler wieder einfiel, der noch immer unerlaubt auf dem Gebührenparkplatz in Samedan stand. Nun hatte er es eilig, zurückzufahren, was nicht nur beiden auf die Laune schlug, es beschleunigte die Sache auch nicht, weil er bei den Lichtsignalen an all den Baustellen regelmäßig den Motor abwürgte – zweimal verpassten sie so die Grünphase. Dann setzte Bernhild sich ans Steuer.

      Beim Bahnhofskreisel ließ sie ihn raus, von dort war es nur ein paar Schritte bis zum Parkplatz. Erst als Capaul den Chrysler aufschloss, entdeckte er eine Wegfahrsperre am linken Vorderrad, unter dem Scheibenwischer klemmte ein zweiter Bußzettel. Darauf stand: Links, rechts, links, hinterm Hauptmann stinkt’s.

      Kurz dachte er daran, auf dem Revier den Schlüssel für die Wegfahrsperre zu holen. Doch dann fiel ihm ein, dass Linard ihn sicher mit auf den Ofenpass genommen hatte, also ging er zum Wassermann, um Bernhild ausladen zu helfen.

      Sie fragte nicht, warum er gekommen war, doch als er Hand anlegen

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