Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit. Rodney Stark
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Dies soll die Bedeutung des griechischen Denkens für die christliche Theologie oder überhaupt das intellektuelle Leben in Europa keineswegs schmälern. Augustinus etwa war direkter Erbe dessen, was die griechische Philosophie im Ganzen hinterlassen hatte, und Thomas von Aquin und die Seinigen sprachen der hellenistischen Bildung gegenüber stets ihren großen Dank aus. Dennoch widersetzten sich Augustinus sowie die Scholastiker dem anti-wissenschaftlichen Element des griechischen Denkens, und lange bevor die griechisch-römische Bildung der Klassiker-Abteilung überantwortet wurde, war sie gerade nicht die bevorzugte Philosophie der Wissenschaftler. Es ist zwar richtig (und wird ständig von Altphilologen hervorgehoben), dass Newton in einem Brief an Robert Hooke im Jahre 1675 schrieb, »wenn ich weiter geblickt habe (als Sie und Descartes), so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand«, doch findet sich eine derartige Hochachtung für die Altvorderen weder in seiner Arbeit noch in seinem Habitus. Vielmehr standen Newton und seine Kollegen, als sie ihren Durchbruch schafften, geradewegs in Opposition zu den griechischen »Riesen«. Die Errungenschaften der Großmeister des 16. und 17. Jahrhunderts – darunter Descartes, Galilei, Newton und Kepler – bezeugten im Gegenteil einen felsenfesten Glauben an einen Schöpfergott, dessen Werk von rationalen Gesetzen bestimmt war, die noch immer der Entdeckung harrten.
Der Aufstieg der Wissenschaft war kein Ausläufer der klassischen Bildung, sondern eine natürliche Folge der christlichen Lehrmeinung, dass die Natur nur deshalb existiere, weil Gott sie erschaffen habe. Um Gott tatsächlich lieben und ehren zu können, ist es notwendig, die Wunder seines Könnens zur Gänze zu würdigen. Und da Gott perfekt ist, stehen die Funktionen seines Könnens in Harmonie mit unveränderlichen Prinzipien. Wenn man nur weidlich Gebrauch der gottgegebenen Kräfte der Vernunft und der genauen Beobachtung macht, sollte es möglich sein, diese Prinzipien zu erkennen.
So lauteten die wesentlichen Ideen, welche dafür verantwortlich waren, warum die Wissenschaft im christlichen Europa zur Geltung kam und nirgendwo sonst.
Moralische Neuordnungen
Die Segnungen, die die Theologie der Vernunft mit sich brachte, waren nicht nur auf die Wissenschaften beschränkt. Von Beginn an zeigte sich das Christentum ebenso erfinderisch in seinen Entwürfen der menschlichen Natur und in Fragen der Moral. An erster Stelle standen Entwürfe grundlegender Menschenrechte, etwa der Freiheit. Im Hintergrund solcher Ideen und Vorschläge gab es aber etwas noch Fundamentaleres: die »Entdeckung« des Individualismus, letztlich des menschlichen Selbst.
Die Aussage, dass der Individualismus überhaupt erst entdeckt werden musste, erscheint dem modernen Geist absurd, und in gewissem Maß ist sie das auch. Alle normalen Menschen sehen sich als Einzelwesen mit einem je singulären Blick auf die Welt und einem völlig singulären Nervensystem. Dennoch betonen manche Kulturen die persönliche Eigenständigkeit, während andere die Kollektivität hervorheben und das Gespür für das Ich unterdrücken. Im zweiten Fall, der sich weltgeschichtlich weitaus häufiger findet, ist die Wahrnehmung des eigenen »Seins« vielmehr ins Kollektive verlagert: jedes individuelle Recht, das jemand besitzt, wird nicht ihm selbst gewährt, sondern seiner Gruppe. Gleichzeitig ist sie es, die ihm Rechte überträgt und gewährt. Unter diesen Bedingungen glaubt niemand daran, dass er allein »der Meister seines Schicksals« sei. Vielmehr drängt sich ihm der Fatalismus-Gedanke auf: denn das eigene Schicksal scheint nicht der eigenen Kontrolle zu unterliegen, sondern voll und ganz von äußeren Kräften bestimmt zu sein.
Selbst die griechischen Philosophen besaßen noch kein Konzept, das unserer Vorstellung einer »Person« entsprochen hätte.61 So lag Platons Augenmerk, als er den Staat schrieb, auf der Polis, der Stadt, und nicht auf ihren Bürgern – er stellte sogar den Privatbesitz in Abrede. Im Gegensatz dazu legte das christliche politische Denken stets den Schwerpunkt auf den individuellen Bürger, und dieser Umstand prägte ganz entschieden die Ansichten späterer europäischer politischer Philosophen wie Hobbes und Locke. Hieran lag etwas ganz entschieden Revolutionäres, da die christliche Betonung des Individualismus letztlich eine »kulturelle Exzentrizität« darstellte.62 Auch das Konzept der Freiheit gibt es in vielen, vielleicht sogar den meisten Kulturen überhaupt nicht. Sehr viele nicht-europäische Sprachen besitzen für Freiheit nicht einmal ein Wort.63
Es ist daher kein Wunder, dass die avancierteren dieser Kulturen allesamt die Sklaverei begrüßten und despotische Staaten hervorbrachten, in denen ein Begriff wie »individuelle Menschenrechte« gar nicht hätte verstanden werden können. So lange das der Fall war, fehlte auch die für den Aufstieg des Kapitalismus notwendige Freiheit. Um diese Heraufkunft überhaupt nachvollziehen zu können, muss man zunächst verstehen, wie und wann die Europäer Begriffe wie Individualismus, Freiheit und Menschenrechte entwickelt haben.
Der Aufschwung des Individualismus
Man vergleiche die Dramen Shakespeares mit denen der alten Griechen. Colin Morris wies darauf hin, dass Ödipus sein trauriges Ende gar nicht kraft seiner Taten verdient hatte. Sein »persönlicher Charakter … spielt in seinem Unglück überhaupt keine Rolle, dieses wird ihm von einem Schicksal verordnet, das von seinen Begierden ganz unabhängig ist«.64 Nicht, dass Ödipus keine Fehler gehabt hätte, doch ging mit seinem Vergehen keinerlei Schuldbewusstsein einher; er fiel einfach seiner Bestimmung zum Opfer. Im Gegensatz dazu waren Othello, Brutus oder das Ehepaar Macbeth alles andere als Gefangene eines blinden Schicksals. Wie Cassius es gegenüber Brutus ausdrückt: »Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in den Sternen, sondern in uns selbst.«65
Es ist viel geschrieben worden über die Ursprünge des Individualismus.66 All diese Bücher und Artikel sind sicher sehr gelehrt und mitunter sogar übertrieben fachkundig. Doch haftet ihnen auch etwas seltsam Vages und Ausweichendes an, womöglich, weil sie sich scheuen ihre eigene Grundthese offen auszusprechen: dass nämlich die westliche Vorliebe für den Individualismus durch das Christentum herbeigeführt wurde.
Seit Anbeginn lehrt das Christentum, dass die Sünde eine persönliche Angelegenheit sei, dass sie also nicht vorrangig in einer Gruppe zu finden sein könne, sondern jedes Individuum sich um sein persönliches Seelenheil selbst zu kümmern habe. Vielleicht ist für die christliche Hervorhebung des Individualismus nichts so wichtig wie die Doktrin des freien Willens. Wenn der Fehler, wie Shakespeare schrieb, »in uns selbst liegt«, dann nur deshalb, weil wir überhaupt eine Wahl haben und es uns obliegt, sie richtig zu treffen. Anders als bei den Griechen und Römern, deren Götter bemerkenswert wenige Werte kannten und die sich kaum um menschliches Fehlverhalten scherten (es sei denn, man hatte die Götter nicht gebührend gnädig gestimmt), ist der christliche Gott ein Richter, der die »Tugend« belohnt und die »Sünde« bestraft. Dieses Konzept ist mit dem Fatalismus nicht vereinbar. Etwas anderes zu behaupten, liefe darauf hinaus, für die eigenen Sünden Gott verantwortlich zu machen. Es hieße, dass Gott die Sünden nicht nur bestraft, sondern sie auch selbst ins Werk setzt. Eine solche Idee liefe der gesamten christlichen Vorstellungswelt zuwider. Die Ermahnung »Geh hin und sündige nicht mehr« würde ins Leere laufen, wären wir bloße Gefangene unseres Schicksals. Ganz im Gegenteil beruht das Christentum auf der grundlegenden Doktrin, dass den Menschen die Möglichkeit und damit auch die Verantwortung mitgegeben ist, über ihre Handlungen selbst zu entscheiden. Wieder und wieder hat Augustinus betont, dass wir »einen Willen besitzen« und dass »daraus folgt, dass, wer immer auch rechtschaffen zu leben wünscht, dies auch erreichen kann«.67 Dies widerspricht auch gar nicht der Lehre, dass Gott bereits im Voraus weiß, welche Wahl wir treffen werden. In Widerrede zu den griechischen Philosophen beteuerte Augustinus, »dass einerseits Gott alles weiß, bevor es geschieht, und dass andrerseits wir all das mit freiem Willen