Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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säkular sich gebender Transformation. So bestimmt er das gesellschaftliche Handeln in den westlichen Ländern tiefgreifend, zwischen der Erwartung des fortwährenden zivilisatorischen Fortschritts (sei es als Realisierung des ›Jenseits‹ im Diesseits, sei es als Verdammtseins zu ökonomischem Wachstum) und dem alltäglichen Zeitmanagement. Den theologischen Umgang damit kann man noch kaum als gelungen bezeichnen, vor allem weil hier das heilsgeschichtliche Paradigma meist konventionell und vermeintlich rahmengebend, aber mit geringem eschatologischem Gehalt weitergeführt wird. So bleibt die Distanzierung von millenaristisch-apokalyptischen Fahrplänen der vermeintlich Bibeltreuen unglaubwürdig; die Beziehung christlicher Ethik zu der von der Heilsgeschichte entkoppelten Zivilisationsgeschichte rückt ins Zwielicht.5

      Eine Theologie, die die Genealogie der Ambivalenzen in der iterierenden Wechselwirkung von Glaubenswissen und Wissenskultur nicht erklären und ihre Fixierung in Dogmatismen nicht verhindern will, muss mit erheblichem Vertrauensverlust rechnen. Dass es bei solchen Halbherzigkeiten nicht bleiben muss, zeigt überzeugend etwa die neuere Arbeit an der Aufgabe, die sich mit der Ablösung der Naturwissenschaften vom biblischen Naturwissen gestellt hat: das religiös relevante Naturverhältnis der biblischen Texte wahrzunehmen und in unsere praktischen Naturverhältnisse einzubringen suchen, d. h. eine christliche Ökologie auszuarbeiten. Auch der ökumenische und der interreligiöse Dialog ist neuestens ein Feld, auf dem die christliche Wissenskultur sich als Differenzierungskunst bewährt. Die Intelligenz, die hier kommunikativ aufgebaut und als Gebot religiöser Toleranz praktisch wird, kommt dem Ziel näher, die Unhintergehbarkeit der eigenen Glaubensüberzeugung mit dem Respekt vor fremdem Glaubenswissen nichtlinear und nichthierarchisch zu verknüpfen und sogar im christologischen Glutkern der theologischen Wissenskultur zu plausibilieren.

       3. Die religionskulturelle Intelligenz der Theologie

      Bisher habe ich mit der Bezeichnung »Christentum« dessen religiöse Praxis und theologische Reflexion gleichermaßen als Gestalten seiner Performanz in den Wissenskulturen Europas angeführt. Beide stellen sowohl explizites als auch implizites Wissen und Können dar, die Theologie allerdings mit der Intention, implizites so in explizites Wissen zu überführen, dass die Differenz von Wissen und Glauben jeweils konkret wird. Deshalb ist sie methodisch und materiell eine Kunst differentiellen Denkens, das seine Gegenstände identifiziert, indem es Unterscheidungen an ihnen wahrnimmt. Dieser Aspekt theologischen Denkens ist in den letzten Dekaden in Anknüpfung an das Theologiekonzept Martin Luthers zu Recht hermeneutisch und soteriologisch stark akzentuiert worden. Er charakterisiert aber auch andere wichtige theologische Operationen, die ein Prägefaktor für europäische Wissenskulturen wurden und die, so glaube ich, strukturell und nicht selten auch topisch dort präsent sind. Diese Präsenz könnte eine Theologie, die methodisch sicher religiöses Wissen überliefert, neu erzeugt und vermittelt, noch verstärken, wenn sie sich als religionskulturelle Intelligenz in christlicher Perspektive versteht und diskursiv kommuniziert. Mit »Intelligenz« bezeichne ich hier den intellektuellen Habitus derjenigen Prinzipien von Erkenntnis, die die Unterscheidung von Subjekt und Objekt von Wissen und die Möglichkeit der Unterscheidung von Objekten, also deren Identifikation als Dinge unter und mit anderen Dingen ermöglichen. Mit »religionskulturell« bezeichne ich die Leistung, Selbstbeschreibungen religiöser Praxis kulturell zu kontextualisieren und perspektivisch zu respezifizieren. Da dies nie in abstracto möglich ist, sondern der jeweiligen historischen Situation zugehört, hat diese Leistung stets auch die Form religionshermeneutischer Anamnese und Analyse.

      Einige basale Differenzierungsleistung religionskultureller Intelligenz scheinen mir in der aktuellen Situation in Europa noch wichtiger zu sein als vordem. Die erste, oft nur noch im Konfliktfall theologisch wahrgenommene Leistung ist die kategorial feste, material jedoch je nach diachronem und synchronem Kontext sehr variable Konstellation einer Gemeinschaft des Wissens und den individuellen Subjekten dieses Wissens. Innerhalb des Christentums wird das konkret in der Korrelation der Kirche als lehr- und rechtsförmige Institution und der ihr zugehörigen Einzelnen, deren persönliche Glaubensgewissheit, obzwar institutionell vermittelt und gepflegt, unvertretbar ist. Doch wurde dies lange Zeit nicht kritisch, erst das neuzeitliche Christentum hat die Differenz von Gemeinschaft (und sei es eine »Mutter«) und Individuum als irreduzible Konstellation bewusst gemacht. Welche schwierigen Probleme daraus erwuchsen – hermeneutische, soziale, mentale – und nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Konfessionen nicht einvernehmlich gelöst sind, liegt am Tage. Es scheint wichtig, daran zu arbeiten v. a. im Interesse der Begründung von allgemeiner Religionsfreiheit und religiöser Toleranz gerade der Gläubigen. Nötig ist das gewiss auch im Interesse der Spezifik des westlich-europäischen Christentums. Ich habe erlebt, wenn die biographische Bemerkung erlaubt ist, dass chinesische Christen der zweiten oder afrikanische Lutheraner der vierten Generation unseren dogmatischen und erst recht unseren ethischen Umgang mit dieser Konstellation für einen fatalen Irrweg halten, für schieren »Subjektivismus« oder gar für ein Phänomen der europäischen »Dekadenz«.

      Unsicher geworden ist auch die damit zusammenhängende basale Differenzierungsleistung in der Konstellation von Kanon und Interpretation. In der protestantischen Theologie wird diese Konstellation und damit die Ambivalenz des Schriftprinzips m.E. noch immer notorisch unterschätzt. Oft wird schon die Unterscheidung von Schrift und Tradition als abstrakte Opposition verharmlost, weil der biblische Kanon nur in seiner Genese als Arbeit an der Tradition wahrgenommen wird, nicht aber als dann tradierter und hermeneutisch durchaus unterschiedlich und mit materiell unterschiedlichen Folgen in Gebrauch genommener Kanon. Lange Zeit wurde überdies das als Kanon fixierte Schriftencorpus seiner Interpretation bloß abstrakt vorausgesetzt, so dass materielle Kanonizität, d. h. die religiöse Autorität der Bibel, erst auf Seiten der Interpretation thematisch, angesichts der zunehmenden Pluralität von Auslegungen langfristig jedoch aporetisch wurde. Es hat bekanntlich einigen Mut gekostet, die z. B. konfessionell sanktionierte Bibelexegese nicht schon für die religiös reale Autorität auszugeben, sondern zu akzeptieren, dass gerade unter der Maßgabe des reformatorischen Schriftprinzips die Kanonizität der Bibel, ihrer einzelnen Schriften und Topiken, fortwährend Veränderungen unterliegt, die nicht stillgestellt werden können. Jede Interpretation der Bibel tangiert diese Autorität spätestens als applicare unvermeidlich; historisch-kritische Exegese dekanonisiert sie schon als explicare, ja schon als intelligere. Ich bin überzeugt, dass die christliche, d. h. in der Erwartung geistlichen Gewinns arbeitende Bibelhermeneutik einen doppelten Prozess durchläuft: den einer differenzierend-distanzierenden Dekanonisierung und einer synthetisierend-identifizierenden Rekanonisierung. Für diesen konstruktiven Prozess gibt es viele, je nach religionskultureller Lage auch ganz unterschiedliche Gründe, Anlässe und Ergebnisse – dass diese Ergebnisse gleichwohl sich im Fließgleichgewicht von Familienähnlichkeit bewegen, behält sich der Heilige Geist vor.

      Diese differenzielle Konstellation von Kanon und Interpretation wird nicht etwa unterlaufen, sondern eher bestärkt dadurch, dass die neuere Kulturhermeneutik darauf hinweist, dass religiöse Vollzüge auch »diesseits der Hermeneutik« aufscheinen und dass performative Präsenz nicht auf hermeneutisch vermittelte Repräsentation reduziert werden kann.6 Die stabile Unterscheidung zwischen dem urkundlichen Schrifttext als »vester Buchstab« und »bestehendes« einerseits, den unterschiedlich ihn auslegenden Hermeneutiken und, mit Hölderlin gesprochen, dem »Gesang«7, d. h. den Medien der gut übertragenden Deutung andererseits: Das ist die Bedingung nicht nur dafür, dass Philologie nicht durch Hermeneutik unterlaufen wird, sondern auch dafür, dass dichterische, bildliche, musikalische Deutungen nicht reduziert werden (müssen) auf die Philologie des Bibeltextes. Das religiös erhebliche ästhetische Wissen und Können, das in liturgischen Inszenierungen, in kultischen Räumen und Ausstattungen, in der bildenden und darstellenden Kunst, in literarischen Texten, ja in guten Predigthandlungen inkorporiert ist, kommuniziert mehr und anderes Wissen als das theologische, propositional und transzendental explizite, aufs Ganze gesehen aber eher schmale Wissen und Können. Es schadet nicht, sich daran zu erinnern, dass die moderne Hermeneutik sich in engem Konnex mit der Ästhetik bildete und dass der Versuch, die hermeneutische Philosophie

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