Sexuelle Gewalt gegen Frauen. Daniela Pollich
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![Sexuelle Gewalt gegen Frauen - Daniela Pollich Sexuelle Gewalt gegen Frauen - Daniela Pollich Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie](/cover_pre911850.jpg)
Mit „frühkindliche[n] Störungen in der psychosexuellen Entwicklung“88 befassen sich psychoanalytische bzw. psychodynamische Perspektiven. Problematische oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit können sich diesen Ansätzen zufolge im späteren Leben in Form von sexuellen Gewaltdelikten manifestieren. Allerdings werden sie in der Zusammenschau psychologischer Ansätze heute ebenfalls als weniger bedeutsam angesehen.89
Darüber hinaus existieren Erklärungsansätze sexueller Gewalt, die sich mit „Störungen der Sexualpräferenz“ – auch als „Paraphilien“90 bezeichnet – als Ursache sexueller Gewalt befassen. Derartige Paraphilien können sich beispielsweise in einem sexuellen Interesse an nicht-menschlichen Stimuli oder in einem Bedürfnis nach Qual und Demütigung von anderen oder sich selbst äußern. Die wohl bekannteste Paraphilie – die in diesem Band von untergeordnetem Interesse ist – ist die Pädophilie. Jedoch ist zu bedenken, dass Paraphilien bei Weitem nicht immer mit einer zwangsweisen Umsetzung gegen den Willen anderer Beteiligter einhergehen müssen.91 Zudem zeigen Forschungsbefunde, „dass der größte Teil aller Sexualstraftäter scheinbar nicht als paraphil“92 einzustufen ist.
Weiter werden im Bereich der psychologischen Erklärungen kognitive Ansätze genannt, deren Kern darin besteht, dass sie die Gründe für sexuelles Gewalthandeln in der Informationsverarbeitung und der Wahrnehmung der Täter suchen. Beispielsweise kann Sexualität bei diesen Personen kognitiv stark mit Macht bzw. Dominanz verknüpft sein und so zum Erzwingen sexueller Handlungen führen.93 Ebenfalls im Bereich der kognitiven Ansätze sind so genannte kognitiv-behavioral ausgerichtete Erklärungen zu verorten. Diese beinhalten „kognitive[.] Verzerrungen [als] Denkmuster, die das kriminelle Verhalten rechtfertigen, beschönigen oder das Opfer für die Tat verantwortlich machen“94. Beispielsweise durch die Leugnung einer Schädigung der Opfer, eine abwertende Sicht auf Frauen oder die Darstellung der eigenen sexuellen Impulse als unkontrollierbar, versuchen Täter, ihre Taten mental zu rechtfertigen oder gar zu legitimieren.95
Daneben werden regelmäßig verschiedene lerntheoretische Ansätze herangezogen, um die Ausübung sexueller Gewalt zu erklären. Diese vertreten die Auffassung, dass sich „sexuelle Verhaltensweisen generell in Lernprozessen“96 entwickeln. Was als sexueller Reiz erkannt wird und wie darauf reagiert wird, ist demnach als erlernt anzusehen und damit auch auf das gesellschaftliche Umfeld zurückzuführen. Wesentlich dabei sind „Belohnungen“ und „Bestrafungen“, die durch
– potenziell abweichende – sexuelle Handlungen eintreten können. Beispielsweise kann eine den Lerneffekt verstärkende Belohnung darin bestehen, dass erzwungene Sexualität die Frustration von (männlicher) jugendlicher Identitätsfindung oder von Zurückweisungen subjektiv lindert oder positive Gemütszustände herbeiführt. Genauso kann durch das Ausbleiben von Bestrafungen nach der Ausübung sexueller Gewalt ein Lerneffekt bezüglich dieser Folgenlosigkeit eintreten. Daneben spielt das Lernen am Modell, also beispielsweise einem sexuell gewalttätigen Elternteil, eine wesentliche Rolle bei derartigen Erklärungsansätzen.97
Scully und Marolla kritisieren generell, dass die psychiatrisch geprägte Literatur zu Vergewaltigungen die Forschungslandschaft und damit auch die Deutung des Deliktes dominiere; dieses Argument lässt sich sicherlich in Teilen auf die psychologische Perspektive ausweiten. Sexualstraftäter würden in dieser Sichtweise als krank oder anormal gesehen, was gleichzeitig dazu führe, dass sie nicht als „normale“ Männer bzw. Straftäter wahrgenommen werden (siehe hierzu auch Abschnitt 2.1).98 Die Autoren sprechen sich daher für einen zusätzlichen sozialen und kulturellen Blick auf das Phänomen aus.99
3.3Soziologische und kriminologische Ansätze
Soziologische und/oder kriminologische Ansätze sind in der Forschungslandschaft zwar vorhanden, jedoch generell bis heute, besonders wenn es um täterbezogene Erklärungen geht, wenig ausdifferenziert.100 Die bedeutsamsten gesellschaftsorientierten Ansätze betrachten insbesondere die sozialen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich sexuelle Gewalt abspielt.
3.3.1Gesellschaftsorientierte und feministische Ansätze
Bei einer gesellschaftsorientierten Betrachtung sexueller Gewalt werden insbesondere die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe und Einstellungen analysiert, die dazu führen, dass Frauen von Männern vergewaltigt werden.101 Die Ursprünge dieser Denktradition stammen aus der feministischen Vergewaltigungsforschung. Frühe Forscherinnen kamen etwa ab den 1970er Jahren zu der Erkenntnis, dass die westlichen Gesellschaften dieser Zeit durch die vorherrschenden Geschlechterrollenbilder und das dadurch entstandene gesellschaftliche Klima als eine so genannte „Rape Culture“102 charakterisiert werden könnten:103 Die althergebrachte (vermeintliche) Überlegenheit des Mannes über die Frau und das Verständnis der Frau als „Besitz“ des Mannes führe dazu, dass Männer, um ihre Machposition zu verdeutlichen, auch sexuelle Gewalt ausüben. Frauen fügen sich, gemäß ihrer gesellschaftlich vorgegebenen Rolle, oft ihrem Schicksal, durch die Männer dominiert zu werden. Insgesamt herrscht damit ein gesellschaftliches Klima, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wird und „normal“ erscheint.104 Einige Autorinnen gehen sogar so weit, Vergewaltigung als Hass- bzw. Vorurteilskriminalität105 gegen Frauen zu bezeichnen, die allein aus Gründen der Abwertung der Opfergruppe begangen wird.106
Obwohl die feministischen Ansätze ihren Ursprung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben und seitdem ein deutlicher gesellschaftlicher Wandel hinsichtlich der herrschenden Geschlechterrollenbilder eingesetzt hat, ist die aktuelle Gültigkeit derartiger Ansätze nicht zu unterschätzen. Die gelegentlich immer noch vorhandenen tradierten Rollenvorstellungen gehen auch heute noch mit gesellschaftlich teilweise verankerten Vergewaltigungsmythen einher (siehe hierzu auch Abschnitt 2.1). Damit wird aus dem Blickwinkel der feministischen Ansätze bis heute sexuelle Gewalt verharmlost; es werden die Täter entschuldigt und den Opfern wird mindestens eine Mitverantwortung zugeschrieben.
3.3.2Kriminologische und viktimologische Erklärungsansätze
Nur wenige Autoren greifen auf Erklärungsansätze sexueller Gewalt zurück, die explizit etablierte Theorien aus der Kriminologie oder Kriminalsoziologie mit täter- oder auch opferspezifischen Blickwinkeln einbeziehen.107 Vereinzelt werden Verbindungen zur Theorie der differenziellen Assoziationen108, zu den Subkulturtheorien109, den Kontrolltheorien110 oder den Theorien rationalen Handelns111 hergestellt oder zumindest angedeutet.
Erklärungsmöglichkeiten aus einer viktimologischen Perspektive umfassen einerseits Opfertypologien112 – die meist wenig zur Erklärung von Opferwerdung geeignet sind –, andererseits Ansätze, die die Rolle des Opfers bei Sexualdelikten in den Mittelpunkt stellen, die so genannten Modelle der Opferpräzipation. Hierbei wird angenommen, das