Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola страница 59
Guten Tag, Silvre!
Guten Tag, Miette!
Die Stimme, mit der sie ihren Morgengruß austauschten, setzte sie in Erstaunen. Sie kannten den Klang ihrer Stimmen nur verschleiert durch das Echo des Brunnens. Sie schien ihnen hell wie der Sang der Lerche. Wie lieblich war es in diesem warmen Versteck, in dieser festtäglichen Luft! Sie hielten sich noch immer bei den Händen, Silvère mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, Miette ein wenig zurückgeneigt. Ihr Lächeln rief gleichsam Helle und eine heitere Stimmung zwischen ihnen hervor. Sie waren im Begriff, sich all die guten Dinge zu sagen, die sie dem dumpfen Widerhall des Brunnens nicht hatten anvertrauen wollen, als Silvère, auf ein leises Geräusch den Kopf wendend erbleichte und die Hände Miettens losließ. Er hatte Tante Dide bemerkt, die hoch aufgerichtet auf der Schwelle des Pförtchens stand.
Die Großmutter war zufällig zum Brunnen gekommen. Als sie in der alten, schwarzen Mauer die weiße Öffnung der Türe erblickte, die Silvere weit offen gelassen hatte, fühlte sie sich im innersten Herzen getroffen. Diese weiße Öffnung schien ihr ein Abgrund von Licht, mit roher Hand in ihrer Vergangenheit aufgetan. Sie sah sich wieder in der Morgenhelle, wie sie herbeilief und über diese Schwelle schritt mit dem ganzen Ungestüm ihrer nervösen Liebesleidenschaft. Und Macquart war zur Stelle und erwartete sie. Sie hängte sich an seinen Hals, blieb an seiner Brust, während die aufgehende Sonne, die mit ihr zugleich bei dem Pförtchen eingedrungen war, das sie zu schließen vergessen hatte, beide in das Licht ihrer schrägen Strahlen tauchte. Es war ein plötzliches Gesicht, das sie grausam aus dem Schlafe ihres Alters aufstörte wie ein letztes Strafgericht, indem es in ihr den brennenden Stachel der Erinnerung weckte. Niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß diese Türe sich noch öffnen könne. Macquarts Tod hatte für sie diese Türe für immer vermauert. Wäre der Brunnen samt der ganzen Mauer in die Erde versunken, ihr Erstaunen hätte nicht größer sein können. In ihre Verwunderung mengte sich plötzlich eine gewisse Empörung gegen die heiligtumschänderische Hand, die, nachdem sie diese Schwelle entehrt, diese helle Öffnung wie ein offenes Grab hinter sich gelassen hatte. Wie durch einen Zauber angezogen, kam sie näher. Unbeweglich stand sie im Rahmen der kleinen Pforte.
Hier blickte sie mit schmerzlicher Überraschung um sich. Wohl hatte man ihr gesagt, daß der Garten der Fouque mit dem Jas-Meiffren vereinigt worden sei; aber niemals hätte sie geglaubt, daß ihre Jugend bis zu diesem Grade erstorben sei. Ihr war, als habe ein Sturmwind alles hinweggefegt, was ihrer Erinnerung teuer geblieben war. Das alte Haus, der große Gemüsegarten mit seinen grünen Beeten war verschwunden. Kein Stein, kein Baum von ehemals war mehr da. Und an der Stelle des Fleckens Erde, wo sie herangewachsen war und den sie gestern noch zu sehen glaubte, wenn sie die Augen schloß, dehnte sich jetzt ein Stück kahlen Bodens aus, ein trostloses Stoppelfeld, das einer Wüste glich. Wenn sie jetzt mit geschlossenen Augen die Dinge der Vergangenheit sich in die Erinnerung rufen wollte, würde immer wieder dieses Stoppelfeld ihr erscheinen gleich einem Laken von grober, gelblicher Leinwand, das man über die Erde geworfen, wo ihre Jugend begraben war. Angesichts dieses alltäglichen, gleichgültigen Anblickes glaubte sie, daß ihr Herz ein zweites Mal sterbe. Jetzt war alles aus; man nahm ihr selbst die Träume ihrer Erinnerungen. Sie bereute, dem Zauberbanne dieser hellen Öffnung nachgegeben zu haben, dieser Türe, die sich auf die für immer entschwundenen Tage öffnete.
Eben war sie im Begriff, sich zurückzuziehen, die verdammte Türe zu schließen, ohne nach der Hand zu forschen, die sie gewaltsam geöffnet hatte, als sie Miette und Silvère erblickte. Der Anblick der beiden verliebten Kinder, die verwirrt, mit niedergeschlagenen Augen ihres Blickes harrten, hielt sie auf der Schwelle fest, die Beute eines noch lebhafteren Schmerzes. Sie begriff jetzt. Sie sollte sich vollends wiederfinden, sich und Macquart, Arm in Arm in der Helle des jungen Tages. Zum zweiten Male ward das Pförtchen zum Mitschuldigen. Wo die Liebe hindurch geschritten, da schritt sie abermals hindurch. Es war der ewige Wiederbeginn mit seinen gegenwärtigen Freuden und seinen künftigen Tränen. Tante Dide sah nur die Tränen und hatte gleichsam ein plötzliches Vorgefühl, das ihr die beiden Kinder blutend, ins Herz getroffen zeigte. Erschüttert durch die Erinnerung an die Leiden ihres Lebens, die dieser Ort in ihr wachgerufen hatte, beweinte sie ihren teuren Silvère. Sie allein war strafbar; hätte sie einst nicht die Mauer durchbrochen, so wäre Silvère nicht in diesem verlorenen Winkel, vor einem Mädchen kniend und sich an einem Glücke berauschend, das den Tod reizt und neidisch macht.
Nachdem die Alte eine Weile stillschweigend dagestanden, trat sie näher und faßte, ohne ein Wort zu sprechen, den jungen Mann bei der Hand. Vielleicht hätte sie die Kinder hier am Fuße der Mauer plaudern lassen, wenn sie sich nicht mitschuldig an diesen tödlichen Freuden gefühlt hätte. Als sie mit Silvère den Rückweg ins Haus antrat, wandte sie sich um, weil sie den leichten Schritt Miettens hörte, die sich beeilt hatte, ihren Krug zu nehmen und quer über das Stoppelfeld zu fliehen. Sie rannte wie toll, glücklich darüber, so leichten Kaufes davon zu kommen. Tante Dide lächelte unwillkürlich, als sie das Mädchen wie eine flüchtige Ziege über das Feld laufen sah.
Sie ist noch jung, flüsterte sie; sie hat noch Zeit.
Sie wollte ohne Zweifel sagen, daß Miette noch Zeit habe zu leiden und zu weinen. Indem sie wieder auf Silvère blickte, der mit Entzücken dem Laufe des Kindes im hellen Sonnenlichte folgte, fuhr sie einfach fort:
Nimm dich in acht, mein Junge; man stirbt daran.
Dies waren die einzigen Worte, die sie bei diesem Vorfall sprach, der alle in ihrem Innersten schlummernden Leiden aufwühlte. Das Stillschweigen war ihr zum Gesetz geworden. Als Silvère wieder ins Haus getreten war, verschloß sie das Pförtchen doppelt und warf den Schlüssel in den Brunnen. So war sie dessen sicher, daß die kleine Türe sie nicht wieder zur Mitschuldigen machen werde. Sie kehrte einen Augenblick zu dem Pförtchen zurück und war glücklich, es wieder in seiner früheren Düsterheit und Unbeweglichkeit zu sehen. Das Grab war wieder geschlossen; die helle Öffnung war für immer verstopft durch diese wenigen Bretter, die schwarz waren von der Feuchtigkeit, grün vom Moose, und auf die die Schnecken ihre silbernen Tränen ausgestreut hatten.
Am Abend bekam Tante Dide einen jener Nervenanfälle, die sie noch von Zeit zu Zeit heimsuchten. Während dieser Anfälle sprach sie oft mit lauter Stimme, ohne Zusammenhang, wie unter dem Alpdrücken. Silvère, der von tiefem Mitleid ergriffen für diesen armen, in Krämpfen sich windenden Körper, die Alte auf ihrem Lager festhielt, hörte sie diesen Abend von Zollwächtern, von Schüssen, von Mord reden. Und sie wand und krümmte sich, flehte um Gnade und sprach von Rache. Als die Krise ihrem Ende nahte, hatte sie – wie immer – einen seltsamen Schrecken, ein Frösteln des Entsetzens, daß ihre Zähne klapperten. Sie richtete sich halb auf, blickte mit einer wirren Verwunderung nach allen Winkeln der Stube, dann sank sie unter schweren Seufzern wieder auf ihre Kissen zurück. Ohne Zweifel war sie die Beute von Wahnvorstellungen. Sie zog Silvère an ihre Brust; es schien, als beginne sie ihn zu erkennen, obgleich sie ihn von Zeit zu Zeit mit einer anderen Person verwechselte.
Da sind sie! stammelte sie. Sie werden dich fassen... sie werden dich auch noch töten... Ich will nicht... Schicke sie weg... sage ihnen, daß ich nicht will... daß sie mir wehe tun, wenn sie mich so anstarren ...
Und