Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola страница 60
Bist du da, mein Kind? Du darfst mich nicht verlassen ... Ich glaubte vorhin, ich würde sterben... Wir taten unrecht, als wir die kleine Tür durchbrachen. Seit jenem Tage habe ich gelitten. Ich wußte wohl, daß jene Tür uns noch Unglück bringen werde. Ach, die teueren, unschuldigen Kinder! Man wird auch sie töten... man wird sie niederschießen wie Hunde.
Sie verfiel wieder in ihren Zustand der Bewußtlosigkeit; sie wußte nicht mehr, daß Silvère noch bei ihr sei.
Plötzlich richtete sie sich auf und starrte nach dem Fußende ihres Bettes mit einem schrecklichen Ausdrucke der Furcht.
Warum hast du sie nicht weggeschickt? schrie sie, ihr weißes Haupt an der Brust des jungen Mannes verbergend. Sie sind noch immer da. Der mit der Flinte macht mir ein Zeichen, daß er schießen werde ...
Bald darauf verfiel sie in einen tiefen Schlaf, wie er nach diesen Krisen sich immer einstellte. Am folgenden Tage schien sie alles vergessen zu haben. Nie wieder sprach sie mit Silvère von dem Morgen, als sie ihn mit seinem Schatz hinter der Mauer gefunden hatte.
Zwei Tage lang sahen die jungen Leute einander nicht. Als Miette zu dem Brunnen zurückzukehren wagte, faßten sie den Vorsatz, den Streich von vorgestern nicht zu wiederholen. Doch hatte ihre so plötzlich unterbrochene Begegnung in ihnen das lebhafte Verlangen erweckt, sich von neuem in einem glücklichen Versteck allein zu treffen. Der Freuden müde, die der Brunnen ihnen bot, und weil er die Tante Dide nicht dadurch betrüben wollte, daß er Miette jenseits der Mauer wiedersah, bat Silvère das Kind, ihm anderwärts ein Stelldichein zu geben. Sie ließ sich nicht lange bitten; sie nahm diesen Vorschlag mit dem zufriedenen Lachen eines Kindes an, das an nichts Schlimmes denkt; sie lachte über den Gedanken, daß sie den Spion Justin zum besten halten werde. Als die Verliebten einig waren, berieten sie lange über die Wahl eines Zusammenkunftsortes. Silvère schlug unmögliche Verstecke vor; er gedachte ordentliche Reisen zu machen, oder das Mädchen zur Mitternachtsstunde in den Scheunen des Jas-Meiffren zu treffen. Miette, die praktischer war, zuckte mit den Achseln und erklärte, sie werde ihrerseits einen Ort suchen. Am folgenden Morgen blieb sie nur eine Minute am Brunnen, so lange wie sie brauchte, um Silvère ein Lächeln zu senden und ihm zu sagen, er möge um zehn Uhr abends sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes einfinden. Man kann sich wohl denken, daß der junge Mensch pünktlich war. Die Wahl Miettens hatte den ganzen Tag seine Gedanken beschäftigt. Seine Neugierde steigerte sich noch, als er auf dem schmalen Pfade dahinschritt, den die Bretterhaufen im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes freiließen. Von dieser Seite wird sie kommen, sagte er sich, nach der gen Nizza führenden Straße blickend. Dann hörte er hinter der Mauer ein lautes Geräusch von knisternden Zweigen, und er sah über der Mauerkrone ein lachendes, struppiges Haupt erscheinen, das ihm fröhlich zurief:
Ich bin's!
Es war in der Tat Miette, die wie ein Knabe einen der Maulbeerbäume erklettert hatte, die heute noch längs der Mauern des Jas stehen. In zwei Sprüngen erreichten sie den Grabstein, der zur Hälfte in den Winkel der Mauer, am Ende des Weges, eingesenkt war. Mit staunendem Entzücken sah Silvère sie herabsteigen und dachte nicht daran, ihr dabei behilflich zu sein. Er faßte sie an beiden Händen und sagte ihr:
Wie flink du bist! Du kletterst besser als ich.
So trafen sie sich zum ersten Male in diesem verlorenen Winkel, wo sie so liebliche Stunden verbringen sollten. Seit jenem Abend trafen sie sich hier fast jede Nacht. Der Brunnen diente ihnen nur mehr dazu, sich gegenseitig von den unvorhergesehenen Hindernissen zu verständigen, die sich ihren Begegnungen entgegenstellten, von Veränderungen in der Stunde, von all den kleinen, in ihren Augen großen Zwischenfällen, die keinen Aufschub duldeten; es genügte, daß, wer dem andern eine Mitteilung zu machen hatte, den Brunnenschwengel in Bewegung setzte, dessen Kreischen weithin hörbar war. Doch obwohl sie an gewissen Tagen sich mehrmals riefen, um sich Kleinigkeiten zu sagen, die in ihren Augen eine ungeheure Wichtigkeit hatten, genossen sie ihre wahren Freuden erst am Abend, auf dem verschwiegenen Wege. Miette war von seltener Pünktlichkeit. Glücklicherweise schlief sie oberhalb der Küche in einer Kammer, in der man, ehe sie ins Haus gekommen, die Wintervorräte aufbewahrte, und zu der eine besondere kleine Stiege hinanführte. So konnte sie zu jeder Stunde das Haus verlassen, ohne von Rébufat oder Justin gesehen zu werden. Für den Fall übrigens, daß letzterer sie einmal bei der Rückkehr überraschen sollte, gedachte sie ihm irgendeine Geschichte aufzubinden und ihn dabei mit jener Härte anzuschauen, die ihn jedesmal zum Verstummen brachte.
Ach, welche glücklichen und milden Abende! Man war damals in den ersten Tagen des September, eines in der Provence sonnenhellen Monates. Die Verliebten konnten erst gegen neun Uhr zusammenkommen. Miette kam über ihre Mauer gestiegen. Sie erlangte bald eine solche Geschicklichkeit in der Überwindung dieses Hindernisses, daß sie fast immer schon auf dem alten Grabsteine stand, noch ehe Silvère ihr die Hand gereicht hatte. Dann lachte sie ihrerseits hell auf, blieb einen Augenblick da stehen, atemlos, mit wirrem Haar, ihren Rock mit der flachen Hand glättend, daß er wieder hübsch in Ordnung komme. Ihr Freund nannte sie dann lachend einen »schlimmen Gassenjungen«. Im Grunde liebte er die kecke Munterkeit des Kindes. Er beobachtete ihren Sprung von der Mauer mit dem Wohlgefallen eines älteren Bruders, der den Übungen eines seiner jüngeren Brüder beiwohnt. Es lag so viel Kindlichkeit in ihrer erwachenden Liebe! Wiederholt faßten sie den Vorsatz, eines Tages am Ufer der Viorne Vogelnester auszuheben.
Du sollst sehen, wie ich auf die Bäume klettere! sagte Miette stolz. Als ich noch in Chavanoz war, erstieg ich die höchsten Nußbäume des Vaters André. Hast du jemals Elstern ausgehoben? Das ist aber schwer!
Dann folgten Auseinandersetzungen über die Art und Weise, wie Pappeln erklommen werden wollen. Miette sagte ihre Ansicht knapp und klar wie ein Junge.
Mittlerweile hatte Silvère sie auf die Erde gesetzt, wobei sein Knie ihr als Schemel diente. Und nun wandelten sie, einander um den Leib fassend, dahin. Und während sie darüber stritten, wie man die Füße setzen und wie man die Hände an den Hüftenansatz legen müsse, schlossen sie sich enger aneinander und fühlten in ihren Umschlingungen ein unbekanntes Glühen, das sie mit einer fremdartigen Wonne erfüllte. Niemals hatte der Brunnen ihnen ein ähnliches Vergnügen verschafft. Sie blieben Kinder, behielten die Spiele und das Geplauder von Gassenjungen und genossen dabei die Freuden von Verliebten, ohne auch nur von Liebe sprechen zu können, bloß dadurch, daß sie sich bei den Fingerspitzen hielten. Von einem instinktiven Bedürfnis ergriffen, suchten sie die Wärme ihrer Hände, ohne zu wissen, wohin ihre Sinne und ihr Herz sie führten. In solcher Stunde glücklicher Kindlichkeit verheimlichten sie einander sogar die seltsame Erregung, die sie bei der geringsten Berührung sich gegenseitig verursachten. Lächelnd, zuweilen erstaunt über das wonnige Gefühl, das sie durchströmte, sobald sie sich berührten, überließen sie sich der Wonne dieser ihnen neuen Empfindungen, während sie fortfuhren, wie zwei Schuljungen von den Elsternestern zu plaudern, die so schwer zu erreichen sind.
So wandelten sie auf dem einsamen Pfade dahin, zwischen den Bretterhaufen und der Mauer des Jas-Meiffren. Niemals überschritten sie das Ende dieses schmalen Sackgäßchens, machten vielmehr jedesmal kehrt, um denselben Weg zurückzugehen. Sie waren hier daheim. Glücklich darüber, sich so wohl verborgen zu wissen, blieb Miette oft stehen und beglückwünschte sich zu ihrer Entdeckung:
Hatte ich nicht eine glückliche Hand! rief sie strahlend. Wir könnten eine Meile weit gehen, ohne ein so gutes Versteck zu finden.
Im dichten Grase erstarb das Geräusch ihrer Schritte. Sie waren in eine Flut von Dunkelheit getaucht, gleichsam zwischen zwei dunkeln Ufern gewiegt und sahen über ihren Köpfen nichts als einen Streifen tiefblauen, mit Sternen übersäten Himmels. In diesen Wogen des Bodens, auf dem sie wandelten, bei dieser Ähnlichkeit des Pfades mit einem Schattenfluß, der unter einem dunkeln und goldschimmernden Himmel sich ergießt, empfanden sie eine unerklärliche Aufregung und senkten die Stimme, obgleich niemand sie hören konnte. Den stillen Fluten