Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer. Arthur Schopenhauer
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Außer den bis hieher betrachteten Vorstellungen nämlich, welche, ihrer Zusammensetzung nach, sich zurückführen ließen auf Zeit und Raum und Materie, wenn wir aufs Objekt, oder reine Sinnlichkeit und Verstand (d.i. Erkenntniß der Kausalität), wenn wir aufs Subjekt sehn, ist im Menschen allein, unter allen Bewohnern der Erde, noch eine andere Erkenntnißkraft eingetreten, ein ganz neues Bewußtseyn aufgegangen, welches sehr treffend und mit ahndungsvoller Richtigkeit die Reflexion genannt ist. Denn es ist in der That ein Wiederschein, ein Abgeleitetes von jener anschaulichen Erkenntniß, hat jedoch eine von Grund aus andere Natur und Beschaffenheit als jene angenommen, kennt deren Formen nicht, und auch der Satz vom Grund, der über alles Objekt herrscht, hat hier eine völlig andere Gestalt. Dieses neue, höher potenzirte Bewußtseyn, dieser abstrakte Reflex alles Intuitiven im nichtanschaulichen Begriff der Vernunft, ist es allein, der dem Menschen jene Besonnenheit verleiht, welche sein Bewußtseyn von dem des Thieres so durchaus unterscheidet, und wodurch sein ganzer Wandel auf Erden so verschieden ausfällt von dem seiner unvernünftigen Brüder. Gleich sehr übertrifft er sie an Macht und an Leiden. Sie leben in der Gegenwart allein; er dabei zugleich in Zukunft und Vergangenheit. Sie befriedigen das augenblickliche Bedürfniß; er sorgt durch die künstlichsten Anstalten für seine Zukunft, ja für Zeiten, die er nicht erleben kann. Sie sind dem Eindruck des Augenblicks, der Wirkung des anschaulichen Motivs gänzlich anheimgefallen; ihn bestimmen abstrakte Begriffe unabhängig von der Gegenwart. Daher führt er überlegte Pläne aus, oder handelt nach Maximen, ohne Rücksicht auf die Umgebung und die zufälligen Eindrücke des Augenblicks: er kann daher z.B. mit Gelassenheit die künstlichen Anstalten zu seinem eigenen Tode treffen, kann sich verstellen, bis zur Unerforschlichkeit, und sein Geheimniß mit ins Grab nehmen, hat endlich eine wirkliche Wahl zwischen mehreren Motiven: denn nur in abstracto können solche, neben einander im Bewußtseyn gegenwärtig, die Erkenntniß bei sich führen, daß eines das andere ausschließt, und so ihre Gewalt über den Willen gegen einander messen; wonach dann das überwiegende, indem es den Ausschlag giebt, die überlegte Entscheidung des Willens ist und als ein sicheres Anzeichen seine Beschaffenheit kund macht. Das Thier hingegen bestimmt der gegenwärtige Eindruck: nur die Furcht vor dem gegenwärtigen Zwange kann seine Begierde zähmen, bis jene Furcht endlich zur Gewohnheit geworden ist und nunmehr als solche es bestimmt: das ist Dressur. Das Thier empfindet und schaut an; der Mensch denkt überdies und weiß: Beide wollen. Das Thier theilt seine Empfindung und Stimmung mit, durch Geberde und Laut: der Mensch theilt dem andern Gedanken mit, durch Sprache, oder verbirgt Gedanken, durch Sprache. Sprache ist das erste Erzeugniß und das nothwendige Werkzeug seiner Vernunft: daher wird im Griechischen und im Italiänischen Sprache und Vernunft durch das selbe Wort bezeichnet: ho logos, il discorso. Vernunft kommt von Vernehmen, welches nicht synonym ist mit Hören, sondern das Innewerden der durch Worte mitgetheilten Gedanken bedeutet. Durch Hülfe der Sprache allein bringt die Vernunft ihre wichtigsten Leistungen zu Stande, nämlich das übereinstimmende Handeln mehrerer Individuen, das planvolle Zusammenwirken vieler Tausende, die Civilisation, den Staat; ferner die Wissenschaft, das Aufbewahren früherer Erfahrung, das Zusammenfassen des Gemeinsamen in einen Begriff, das Mittheilen der Wahrheit, das Verbreiten des Irrthums, das Denken und Dichten, die Dogmen und die Superstitionen. Das Thier lernt den Tod erst im Tode kennen: der Mensch geht mit Bewußtseyn in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst Dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzen Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat. Hauptsächlich dieserhalb hat der Mensch Philosophien und Religionen: ob jedoch Dasjenige, was wir mit Recht an seinem Handeln über Alles hoch schätzen, das freiwillige Rechtthun und der Edelmuth der Gesinnung, je die Frucht einer jener Beiden gewesen, ist ungewiß. Als sichere, ihnen allein angehörige Erzeugnisse Beider und Produktionen der Vernunft auf diesem Wege stehn hingegen da die wunderlichsten, abenteuerlichsten Meinungen der Philosophen verschiedener Schulen, und die seltsamsten, bisweilen auch grausamen Gebräuche der Priester verschiedener Religionen.
Daß alle diese so mannigfaltigen und so weit reichenden Äußerungen aus einem gemeinschaftlichen Princip entspringen, aus jener besonderen Geisteskraft, die der Mensch vor dem Thiere voraus hat, und welche man Vernunft, ho logos, to logistikon, to logimon, ratio, genannt hat, ist die einstimmige Meinung aller Zeiten und Völker. Auch wissen alle Menschen sehr wohl die Aeußerungen dieses Vermögens zu erkennen und zu sagen, was vernünftig, was unvernünftig sei, wo die Vernunft im Gegensatz mit andern Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen auftritt, und endlich, was wegen des Mangels derselben auch vom klügsten Thiere nie zu erwarten steht. Die Philosophen aller Zeiten sprechen im Ganzen auch übereinstimmend mit jener allgemeinen Kenntniß der Vernunft, und heben überdies einige besonders wichtige Aeußerungen derselben hervor, wie die Beherrschung der Affekte und Leidenschaften, die Fähigkeit, Schlüsse zu machen und allgemeine Principien, sogar solche, die vor aller Erfahrung gewiß sind, aufzustellen u.s.w. Dennoch sind alle ihre Erklärungen vom eigentlichen Wesen der Vernunft schwankend, nicht scharf bestimmt, weitläuftig, ohne Einheit und Mittelpunkt, bald diese bald jene Aeußerung hervorhebend, daher oft von einander abweichend. Dazu kommt, daß Viele dabei von dem Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung ausgehn, welcher der Philosophie ganz fremd ist, und nur dient die Verwirrung zu vermehren. Es ist höchst auffallend, daß bisher kein Philosoph alle jene mannigfaltigen Aeußerungen der Vernunft strenge auf eine einfache Funktion zurückgeführt hat, die in ihnen allen wiederzuerkennen wäre, aus der sie alle zu erklären wären und die demnach das eigentliche innere Wesen der Vernunft ausmachte. Zwar giebt der vortreffliche Locke, im »Essay on human understanding«. Buch 2, Kap. 11, §10 u. 11, als den unterscheidenden Charakter zwischen Thier und Mensch die abstrakten allgemeinen Begriffe sehr richtig an, und Leibnitz wiederholt Dieses völlig beistimmend, in den »Nouveaux essays sur l'entendement humain«. Buch 2, Kap. 11, § 10 u. 11. Allein wenn Locke in Buch 4, Kap. 17, § 2, 3, zur eigentlichen Erklärung der Vernunft kommt, so verliert er ganz jenen einfachen