Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim  Ringelnatz

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Er hatte ein schön geschnittenes Gesicht und imponierte mir in allem. Besonders aber durch sein sicheres und unerschrockenes Verhalten bei einer fatalen Gelegenheit, da Rochlitz ihm eine obszöne Photographie abnahm. Rochlitz vertuschte diesen Vorfall.

      Arthur Tausig war der Sohn eines Rabbiners. Er hatte als Jude viel unter unserem Spott zu leiden.

      Als geistig unzurechnungsfähig wurde Bonz sehr bald zum Spott der ganzen Klasse. Mir erschien er nur ein bißchen verrückt. Und ich mochte ihn gerade darum leiden. Sein Vater war übrigens auch wie Harichs Vater ein hoher und geschätzter Beamter.

      Der körperlich stärkste von uns hieß Lakorn, ein großer frühreifer Junge, ungeschlacht, aber höchst gutmütig und ehrlich. Wie ein brauner, junger Jagdhund war er. Er half abends seinem Vater, einem Kneipenwirt in der Vorstadt, beim Bedienen der Gäste und war dadurch schon mit den Schatten- und Sonnenseiten des Arbeiterstandes vertraut. Deshalb wurde er von einigen bürgerlichen Lehrern als feindliches Element gehaßt und sehr ungerecht behandelt. Als ich ihn einmal besuchte, war ich allerdings auch verblüfft darüber, wie vertraulich er mit seinem Vater stand, daß er ihm zum Beispiel lachend vor mir berichtete, ich hatte das harmlose Haus vis-à-vis für einen Puff gehalten.

      Da war ein ganz kleiner, winziger Knirps unter uns. Den warfen Lakorn und Harich sich manchmal hin und her wie einen Fangball zu.

      Es gab auch zwei schwere Jungens in dem Institut. Der eine unternahm eines Tages einen regelrechten Einbruch und stahl Gurken. Andermal, als er mit mir und noch zwei Knaben durch einen Wald ging und wir darüber klagten, daß wir gar kein Geld hatten, sagte er: »Einen Moment! Das verschaffe ich.« Lief uns voraus und trat nun – ärmlich gekleidet war er – mit gezogenem Hut an alle Passanten heran und bettelte sie an. Das Geld teilte er redlich mit uns.

      Das andere mauvais sujet war ein sehr undurchsichtiger, wirklich übler Sohn eines sehr mysteriösen, wirklich üblen Besitzers einer Animierkneipe. Diese beiden Schüler spie die Schule im Laufe der Zeit aus, nach zwei für uns höchst sensationellen Ereignissen.

      Am 28. März 1899 wurde ich in der Matthäikirche eingesegnet. In dem vorangegangenen Konfirmationsunterricht hatte ich mich auch schlecht betragen und besonders durch Juckpulver Ärgernis erregt.

      Wieder verbrachten wir die großen Ferien in Tautenburg und Umgebung. Man zeigte uns Weimar, erzählte uns von Goethe, und Vater führte uns vom »Elefanten« auf den bunten Gemüsemarkt, um Sinn für künstlerisches Farbenverständnis und für volkstümliches Leben in uns zu wecken. In Jena aßen wir Kalbsnierenbraten in der »Sonne«. Papa erzählte vom Kämmerer-Karl und der Himmelsziege und zeigte uns die sieben Wunder der Stadt. Einmal wehte an der Zeise eine lange schwarze Trauerfahne. Jemand sagte, Bismarck wäre gestorben. Vater sah die Studenten unter jener Fahne lustig beim Frühschoppen kneipen und wurde plötzlich sehr traurig.

      Nach heißen Wanderungen setzte Vater manchmal eine köstliche Bowle an. Er war als sachverständiger Bowlenbrauer weit bekannt. Er war auch ein feiner Kenner von Moselweinen. Bei einem Preisausschreiben des Trarbacher Kasinos gewann er mit einem Moselweinlied den ersten Preis von 500 Flaschen edelsten Mosel- und Saarweins. Das gab dann auserlesene Festlichkeiten bei uns, bei denen auch schon Gnadentröpfchen auf uns Kinder fielen. Schmeckte so gut auf den Tollerschen Schulstaub.

      Von Schwester und Bruder war ich inzwischen naturgemäß mehr und mehr abgerückt. Ottilie war ein schöner, umschwärmter und koketter Backfisch geworden. Sie besuchte eine Tanzstunde mit Liebesflirt, der sich immer dramatischer gestaltete. Wolfgang widmete sich schon vorstudentlichen und wissenschaftlichen Interessen, besonders der Zoologie und der Steinkunde, sammelte Petrifakten und Briefmarken. Während meine Eltern ihre Anteilnahme mehr auf meine Geschwister und deren Bekannte verlegten, verbrachte ich meine Zeit frech und froh in meinem jüngeren, freieren und rauheren Freundeskreis. Das Erstrebenswerteste war mir damals etwa: mit diesen Freunden einen Stammtisch zu pflegen, wo man viel Bier zuprostend trank, dicke Zigarren rauchte und von Zeit zu Zeit eine allgemeine erschütternde Lache ausstieß. Wie ich das an vollbärtigen Spießern und Studenten so oft bewundert hatte. Unter den zirka fünfundzwanzig Schülern meiner Klasse fanden sich genügend zusammen, die diese meine Neigung nicht nur teilten, sondern von denen einige schon Überlegenheit mitbrachten. Sie konnten Billard und Skat spielen, verfügten über Kommentausdrücke und wußten sehr vorgeschrittene, schweinische Witze. Ein Stammtisch kam aber wegen Geldnot und Vorliebe zu Sahnenschnitten anfangs nur in kleinen Kakaostuben zustande, und auch nur vorübergehend. Er endigte meistens mit Schulkrach, Zank, Klatscherei.

      An das heimliche Rauchen war ich längst gewöhnt. Es galt für männlich, durch die Lunge zu rauchen. Es galt auch für männlich, keine Schulmappe zu benutzen, sondern die Bücher unterm Arm zu tragen.

      Meine Eltern waren nach dem Vorort Gohlis verzogen. Auf dem weiten Schulweg dahin steckte ich mir dreist eine Zigarre an. Ein fremder Herr trat auf mich zu, zog mir ein Buch unterm Arm weg, schlug es auf, las meinen Namen, gab es mir schweigend zurück und entfernte sich. Das war zweifellos ein Lehrer einer anderen Schule. Die mit mir gehenden Freunde meinten, ich würde nun wohl in der Nachmittagsstunde vom Direktor etwas zu hören kriegen. Ich war sehr bedruckst. Jedoch nicht lange. »Ihr werdet sehen, daß mir gar nichts passiert«, sagte ich. Denn schon hatte ich einen Plan gefaßt. Über Mittag kaufte ich mir in einem Laden für Scherzartikel eine Feuerwerkszigarre. Die rauchte ich in einem Keller ganz eilig so weit, bis sie explodierte. Den Rest löschte ich und verwahrte ihn in der Firmatüte. Das wollte ich vorzeigen. »Ich habe nur eine Scherzzigarre geraucht«, wollte ich sagen. Ich war stolz auf meinen Einfall.

      Als ich nachmittags nach Schluß der Geographie zum Direktor gerufen wurde, lachte ich meinen Freunden siegesgewiß zu.

      »Du hast geraucht!« brüllte mich Herr Toller an.

      »Nein, Herr Direktor, ich habe nur eine Feuer –«

      Weiter ließ mich der Direktor nicht reden. »Du Lausejunge! Zwei Stunden Arrest!« Dabei gab er mir links und rechts gewaltige Ohrfeigen und stieß mich zuletzt so heftig aus der Tür, daß ich durchaus nicht in Siegerstellung auf meine draußen wartenden Kameraden prallte.

      Dannhäuser, der selber aussah wie ein Osterhase, bekam ein lebendes Kaninchen geschenkt, das ich nun besichtigen sollte. Er hatte es vorläufig in ein Goldfischglas gesteckt und auf das Glas einen schweren Deckel gesetzt. Als wir hinkamen, lüftete er diesen, beugte sich nieder und sagte: »Es scheint traurig zu sein, es läßt den Kopf hängen.« Ich trat prüfend näher und sagte ernst wie ein Arzt im Sterbezimmer: »Es ist erstickt.« Und hatte recht.

      Linkes Eltern betrieben eine angesehene Fischhandlung. Ich durfte dort manchmal beim Verkaufen helfen und mußte dann auch Fische schlachten und ausnehmen. Linke trieb sich mit dem schlimmsten Gassenpack herum und war schon sehr gewieft. Er kannte den Jargon der Stromer und Schnapsbrüder und hatte dafür, doch auch für anderes, ein humorvolles Verständnis. Wir unterhielten uns ausgezeichnet miteinander. Durch ihn kam ich auch zu den Kindern einer Schornsteinfegerfamilie und verkehrte eine Zeitlang in deren Heim. Ich staunte, wie wohlerzogen, wie höflich und taktvoll diese Leute sich benahmen, ohne daß sie mehr gelernt hatten, als Leute des Handwerks damals lernten.

      Am häufigsten besuchte ich Bodensteins. Drei Jungens, die alle zu Toller, aber in verschiedene Klassen gingen. Alle drei robust und gutmütig. Erwin war ein stiller, etwas schwachsinniger Mensch. Aber er half, wie seine Brüder, dem Vater tüchtig im Beruf. Eine große Weinhandlung und ein altrenommiertes Weinlokal, wo auch mein Vater allein oder mit dem Künstlerverein »Die Stalaktiten« gelegentlich hinkam. Der alte Bodenstein hatte sein Geschäft mit Fleiß und Umsicht sehr hochgebracht. Er war immer ernst und streng. Ich fürchtete ihn besonders, weil er mir sehr auf die Finger sah. Denn ich neigte dazu, seine Kinder allzuoft zu einer Flasche Wein anzuregen, die sie mit der Zeit dann heimlich heranschafften. Ich nutzte überhaupt die Wohlhabenheit dieser höchst anhänglichen Freunde zu

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