Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Von Johannes Trojan wußte ich, daß er Sitzredakteur des »Kladderadatsch« war und für einen guten und witzigen Dichter galt. Ich konnte mich auch davon überzeugen, daß er viel von Getränken und Pflanzen wußte und mit Kindern entzückend umzugehen verstand.
Der Dichter Victor Blüthgen schenkte meinen poetischen Anfängen freundliche Aufmerksamkeit und manches Lob. Deswegen gefiel er mir. Seiner Frau oder seiner Schwester oder, Gott weiß wem, trug ich zur Hochzeit als Page gekleidet die Schleppe. Da man mir aber Wein zu trinken gegeben hatte und ich übermüde war, trat ich mehrmals auf die Schleppe, worüber die Braut sehr unhold zu mir war.
Mein Vater war mit sehr viel merkwürdigen Zeitgenossen bekannt. Er suchte uns die Art und Bedeutung derselben klarzumachen, und es freute ihn sichtlich, wenn sich uns Gelegenheit bot, solche Leute persönlich kennenzulernen. Uns Kindern machte das nur selten Spaß. Meistens fühlten wir uns vor Respekt und Verlegenheit unglücklich, und es blieb uns auch nichts übrig, als blöde zu schweigen oder mit Ja und Nein zu antworten.
»Ich gehe jetzt auf einen Sprung in dieses Haus, um Moritz Busch zu besuchen«, sagte Papa und erklärte mir nochmals eilig, wer Moritz Busch war. Dann ließ er mich allein warten. Aber sehr bald kam er zurück und sagte: »Der alte Busch will dich sehen. Du kennst außerdem seine Nichte.«
Ich seine Nichte kennen?? Und da stand ich nun dem kleinen Herrn gegenüber, der der Eckermann Bismarcks gewesen war. Und ich wurde noch verdatterter, als ich in seiner Nichte ein Mädchen wiedererkannte, dem ich einmal auf der Eisbahn den Hof gemacht und ein Veilchensträußchen überreicht hatte. – Man quälte mich indessen nicht lange.
So zeigte uns Vater öfters berühmte oder originelle Menschen. Was er dazu sagte, war immer exakt gewußt und ohne Überhebung aus einer ganz bescheidenen Neutralität heraus gesprochen. Er selbst blieb gern im Schatten. Nur war ich leider viel zu unreif und abgelenkt, um solchen Ausführungen die Aufmerksamkeit zu schenken, deren sie wert waren.
Trotzdem ist mir von allen Gesprächen Vaters und von jeder Erzählung aus seiner Jugend, aus seiner Pariser Zeit, aus seinem Leben immer ein Pünktchen im Gedächtnis geblieben. Ich meine: Ich könnte heute daraus ein deutliches Bild zusammensetzen. Vaters Bild. Leider erst heute. Manchmal meine ich sogar, ich könnte daraus mein eigenes Bild zusammensetzen.
Auf der Presse
Frau Fischer nahm ihren Sohn vom Gymnasium fort und brachte ihn auf eine jener Drillschulen, die wir Presse nannten. Auch mich steckte man in ein solches Institut. Es hieß nach seinem Direktor »Tollersche Privat-Realschule«. In der Stadt war diese Schule berüchtigt.
Latein fiel weg. In den andern Fächern fand ich mich dort um einen Grad besser zurecht als im Gymnasium. Höchstens um einen Grad.
Am schwersten fiel mir die französische Sprache. Sächsisch gelehrt war sie wohl auch von einem Sachsen nicht zu lernen. »Schö nä ba, dü na ba, il na ba, nu nawong ba, wu nawä ...« Leider wußte ich mir für teures Geld ein für Schüler verbotenes und schwer zu erlangendes Buch zu verschaffen. Eine wörtliche Übersetzung des Lehrbuches von Plötz. Mit Hilfe dieses Schlüssels fertigte ich Hausübersetzungen an, die erstaunlich wenig Fehler aufwiesen. Mußte ich aber unter Aufsicht des Lehrers nach Diktat übersetzen, so entstand etwas, was von Fehlern wimmelte. Dieser Lehrer, er hieß Rochlitz, war ein graumelierter Herr. So wie er aussah, stellte ich mir damals einen Marquis vor. Er zeigte jedoch weit mehr Interesse für mich als ich für ihn.
Ich hatte mir angewöhnt, allzeit an den Fingernägeln zu kauen. Wenn ich während des französischen Unterrichts mich so recht innig und fernsinnend diesem Sport hingab, beschlich mich Rochlitz und schlug mir unversehens mit dem Lineal gehörig auf die Hand. Das half aber nur für kurze Zeit. Später mußte ich ihm vor Beginn jeder Stunde meine häßlich verstümmelten Fingerspitzen hinhalten, und er schmierte mir zum Gaudium der ganzen Klasse Ochsengalle darauf. Ochsengalle ist gelb und schmeckt bitter. Aber meine Leidenschaft nahm das mit in Kauf und gewöhnte sich rasch daran. Als man dieser üblen Angewohnheit von mir keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, verlor sie sich von selber.
Rochlitz beschlich mich auch auf einem anderen Gebiete. Während der öden Schulstunden vertrieb ich mir die Zeit damit, mit Buntstift, ich glaube sogar mit Wasserfarben, Bilder zu malen. Feuersalamander, Reiter, rote Husaren oder sogar politische Bilder. Politisch deswegen, weil ich in ihnen irgend etwas Aufgeschnapptes oder dem Kladderadatsch Abgesehenes darzustellen versuchte. Etwa den großen Russischen Bären neben der zierlichen Französischen Marianne. Rochlitz beobachtete mich dann heimlich, und auf einmal sprang er zu mir und entriß mir das Bild. Zufällig immer dann, wenn es fertig war. Er sah stets von einer Bestrafung ab, und es war mir gleichgültig, daß ich das Bild nicht zurückerhielt.
Wie sollte dabei Französisch in mich kommen. Auch als mein Vater sich persönlich meiner annahm und mir daheim Unterricht erteilte, ergab sich nichts anderes als Peinlichkeiten. Ich gestand nicht, daß ich die Anfangsgründe nicht begriff, schämte mich zu sagen, daß ich gar nichts, rein gar nichts wußte. Und der Privatunterricht endete damit, daß mein Vater wieder den Klemmer verlor, mich an seine rauhe Backe drückte, und wir beide weinten.
Englisch fiel mir leicht, aber ich war völlig uninteressiert. – Dem Religionsunterricht mißtraute ich im Unterbewußtsein. – In Geographie war ich faul. – In Geschichte schwitzte ich Angst. – Naturbeschreibung hatte scheinbar nichts mit Natur zu tun. Naturlehre auch nicht. (Ich beschreibe diese Aufzählung nach einem Zensurenverzeichnis, das vor mir liegt. Den vorgedruckten Fächern sind handschriftlich Zensuren hinzugefügt.) – Zahlenrechnen fand ich entsetzlich. – Mathematik entsetzlich. – Für Freihandzeichnen zu unbegabt. – Geometrisches Zeichnen: Darüber spreche ich noch. – Schreiben ganz schlimm. – Gesang: nur ein Strich. – Turnen: Lehrer und Schüler sich gegenseitig nicht im klaren. – Alle übrigen Fächer kamen, weil sie fakultativ waren, für mich nicht in Betracht.
Im deutschen Aufsatz und in deutscher Grammatik unterrichtete der gestrenge Direktor selbst. – »Den besten Aufsatz haben geschrieben«, sagte er zu Beginn der Stunde und nannte dann die Namen der zwei oder drei Belobten. Da war ich häufig dabei. Und ich freute mich dann. Denn Vater hatte mir für die Zensur 1 eine Mark versprochen. Indessen bezog sich das »besten« nur allgemein auf den Aufsatz als solchen. Bei der nun folgenden Verlesung der Zensuren stellte sich heraus, daß ich die schlechteste erhalten hatte. Weil mein Aufsatz unerhört unorthographisch und unschön geschrieben, das Schreibheft außerdem durch Kleckse, einradierte Löcher sowie Fingerabdrücke total versaut war. Dabei entwarf ich manchmal heimlich Aufsätze für andere Schüler, wofür ich Bezahlung oder Geschenke annahm. Meine Glanzleistung hatte ich im ersten Tollerschen Schuljahr vollbracht, als ich aus meinem Heft ganz fließend einen Hausaufsatz vorlas, der gar nicht darin stand. Ein jüdischer Mitschüler, der auch keinen Aufsatz geschrieben hatte, versuchte, meine Frechheit nachzuahmen, geriet aber gleich ins Stocken und wurde bestraft.
Herr Toller war sehr gefürchtet. Nur wenige Schüler, und zwar die, die bei ihm in Privatpension lebten, bewegten sich freier vor ihm. Darunter war zufällig der Primus. Kurze Zeit nach meiner Aufnahme in die Realschule starb ein alter Lehrer, ein herzensguter, treuer, leider sehr kranker Mann. Ich habe auch etwas dazu beigetragen, ihn zu Tode zu quälen. Denn wir nutzten die Hilflosigkeit des Greises dazu aus, in seinen Stunden grausamen Unfug zu treiben. Und ich war auch bei Toller sehr bald der Haupthanswurst geworden.
Da auf eine solche Presse Jungens geschickt wurden, die von besseren Schulen abgestoßen waren, kann man sich denken, daß wir eine recht gemischte