Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim  Ringelnatz

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nach Altona zum Militärgefängnis. Da aber an dem Tag die Zellen dort alle besetzt waren, ließ man mich wieder gehen und vertröstete mich auf andermal. Bei dem andernmal holte mich ein gemeiner Soldat ab. Der fragte, ob ich einverstanden wäre, daß er mich abtransportiere. Ich könnte als Unteroffizier ja eigentlich einen Unteroffizier verlangen. In seiner Abteilung wäre aber gerade kein Unteroffizier frei. Es lockte mich, den Gemeinen abzulehnen. Er war aber so hilflos und gutmütig, daß ich mit ihm ging. Unterwegs beschwatzte ich ihn, mit mir verbotenerweise in einer entlegenen Schenke einzukehren. Dort besoff er sich auf meine Kosten so sehr, daß er, nachdem er mich im Arrestlokal unter vorschriftsmäßigem Zeremoniell abgeliefert hatte, selbst abgeführt wurde. Man nahm mir die Hosenträger ab, damit ich mich nicht erhängen könnte. Ich verbrachte vierundzwanzig abscheuliche Stunden bei Wasser und Brot. Kaum erträglich, obwohl meine Phantasie viele Spiele in der kahlen Zelle erfand.

      Mit Telschow zusammen nahm ich 1906 Tanzunterricht bei Herrn Eckardt. Polka, Rheinländer, Menuett, Moulinette, Quadrille, Walzer. Ach Walzer! Ich gab mir die erdenklichste Mühe, aber Walzer lernte ich nie. – Als der Unterricht soweit fortgeschritten war, daß wir zum erstenmal mit den Damen zusammen tanzten, verliebte sich Telschow sofort in die gleiche Dame wie ich. Wir schwuren uns, es ehrlich abzuwarten und zu ertragen, für wen von uns »Schwälbchen« sich entscheiden würde. Es stand schlimm für mich, denn ich hatte krumme Beine, eine lange Nase und einen Gang, der ebenso unsicher war wie meine Handschrift. Telschow dagegen war ein stattlicher Bursche, der sich mit einer spaßigen Eitelkeit kleidete und pflegte. Schwälbchens Schwester nahm auch an dem Tanzkursus teil. Die beiden pflegten nach der Stunde mit dem Alsterdampfer heimzufahren. Um nun Schwälbchens Meinung über uns zu ergründen, steckten wir uns hinter Freudling. Der richtete es so ein, daß er zur gegebenen Zeit auf dem Dampfer neben unsere Tanzdamen zu sitzen kam. Da hörte er zwar, wie diese über uns sprachen und daß sie mich den »kleinen Frechen« nannten. Aber eine Stellungnahme war aus dem Gespräch nicht zu entnehmen. Und das einzige Resultat dieses Manövers war, daß Freudling künftig an unseren Liebeserlebnissen mit Schwälbchen als Dritter teilnahm.

      Eine unbändige Tanzwut überfiel uns. Als der Eckardtsche Kursus beendigt war, machten wir alle öffentlichen und privaten Bälle mit. In den verschiedenen Sälen des Etablissements Sagebiel fanden allabendlich mehrere statt. Wie besuchten sie alle, indem wir uns hineinschlichen oder hineindrängten. Dann fielen wir häufig sehr auf, besonders ich, der ich den Walzerschritt nicht begriffen hatte und statt dessen höchst sonderbare und kühne Sprünge machte.

      Mein bergmännischer Bruder richtete sich eine Wohnung in Lüneburg ein, weil er in der Heide nach Kali bohren sollte. Da zog ich denn zu ihm, und wir führten zusammen nachts ein flottes Junggesellenleben. Ich mußte morgens sehr früh aufstehen, um den Schnellzug nach Hamburg zu erreichen. Mein Bruder als Älterer und wohlbestallter Bergdirektor bezahlte, was wir im Wirtshaus verzehrten. Um mich dankbar zu zeigen, brachte ich ihm eines Nachts ein Mädchen aus Hamburg mit. Er schlief aber schon und nahm das Geschenk nicht an.

      Im Januar 1907 wurde ich Kommis und ließ mich nach Leipzig versetzen, wo ein Herr Kirchner die Ruberoidgesellschaft vertrat. Der wohnte mit seiner jungen Frau in einer hübschen Wohnung. Mir wurde dort ein Zimmer als Büro eingerichtet, wo ich nun auf der Maschine klapperte und andere Arbeiten verrichtete. Mit der prickelnden Aussicht auf ein Fenster vis-à-vis, hinter dessen durchsichtiger Gardine sich zuweilen eine schöne Dame unbeobachtet glaubte und an-und auszog.

      Herr Kirchner war ein seriöser Reserve-Offizier. Er liebte das Reiten und reiste auch geschäftlich zu Pferd.

      Ich meinte, die Tätigkeit eines Reisenden würde auch mir liegen und richtete an die Stammfirma nach Hamburg sehr bald den Vorschlag, man möchte:

      Erstens. Mein Gehalt erhöhen (ich nannte eine verhältnismäßig hohe Summe).

      Zweitens. Eine Stenotypistin neben mir engagieren, damit ich mich gelegentlich auch als Reisender betätigen könnte.

      Drittens. Mir zu diesem Zweck ein Motorrad zur Verfügung stellen.

      Ehe ich dieses Schreiben absandte, legte ich es Herrn Kirchner vor. Der meinte, ich wäre verrückt, die Herren in Hamburg würden mich auslachen. Aber er konnte und wollte auch nicht verhindern, daß ich den Brief absandte. Ich täuschte mich nicht in der Großzügigkeit des Herrn Alfeis. Die Antwort der Ruberoidgesellschaft besagte, daß mein Gehalt wesentlich erhöht und daß eine Stenotypistin zu meiner Entlastung engagiert würde. Herr Kirchner könnte mich auf Reisen schicken. Von einem Motorrad sehe man ab, weil ein staubbedeckter Motorfahrer nicht repräsentativ erschiene. Alles sehr einleuchtend. Ich freute mich. Herr Kirchner sandte mich auf Reisen, und ich erzielte einige nette Erfolge.

      Ich wohnte nicht bei meinen Eltern, sondern hatte mir im Musikviertel nahe vom Büro ein Zimmer gemietet. Abends dichtete ich, malte oder schwärmte mit meinen früheren Bekannten, mit Martin Fischer, mit Bodensteins und dem wissensdurstigen Bruno Wille. Unser Verein, das »Nachtlicht«, existierte noch wichtig mit vollen Idealen. Ich hielt dort einen Vortrag über die Heilsarmee.

      Leider muß ich aus Rücksichtnahme einige lustige Anekdoten aus dieser Zeit unterdrücken.

      Es muß in dieser Zeit gewesen sein, daß ich einen langgehegten Wunsch erfüllte, mich an der Universität immatrikulieren ließ. Bei meiner geringen Vorbildung kam nur Kameralia in Frage. Ich stand mit einer kleinen keramischen Zeitung in Verhandlung, die mich eventuell als Redakteur engagieren wollte. Durch die Hoffnung auf diesen Verdienst ermutigt, meldete ich mich an der Universität an und war nach dem feierlich dem Rektor geleisteten Handschlag Student. Schneiderofferten regneten auf mich herab. Studentenverbindungen luden mich als Gast ein und versuchten, mich zu keilen. Ich war selig. Als mein Vater von diesem Schritt erfuhr, machte er mir freundliche Vorwürfe. Wovon ich solch teures Studium bezahlen wollte und wozu es mir dienen könnte. Ich hörte nicht auf ihn, der es wirklich gut mit mir meinte. Weil der derzeitige Rektor der Leipziger Universität, Georg Rietschel, ein Verwandter von uns war, erwirkte mein Vater, daß meine Immatrikulation rückgängig gemacht wurde. Über diese Nachricht war ich so traurig, daß ich, von der elterlichen Wohnung zurückfahrend, auf dem Perron der Trambahn dicke Tränen weinte.

      Am 14. September 1907 wohnte ich der Hochzeit meines Bruders in Freiberg i.S. bei. Das wurde eine umfangreiche, lustige und reiche Feier. Sowohl mein Vater wie auch ich hatten Tafellieder dazu verfaßt. Mein Bruder war tief ergriffen davon, daß ihm die Feuerwehr ein Ständchen brachte.

      Ich wurde auf Wunsch nach der Frankfurter Filiale versetzt. Da hatte ich wie zuvor einen Chef über mir und eine lustige Stenotypistin neben mir. Das Geschäft lag in der Stiftstraße. Ich fand nebenbei in der Kleinen Eschenheimer Gasse ein freundliches Zimmer bei der freundlichen Wirtin, Frau Müller.

      Die Häuser und Häuschen dieser Gasse waren altmodisch und hatten steile, ausgetretene Treppen. Die Wendeltreppe in meinem Haus führte kein Geländer, sondern es hing dafür ein loser Strick durch ihren Schacht herab.

      An dem düsteren Ende der Kleinen Eschenheimer Gasse führten zwei heruntergekommene, verrufene Mädchen einen Tabakladen. Die lernte ich kennen und besuchte sie in der Folgezeit oft. Sie hatten nie Geld, aber auch fast keine Ware, so daß ich ihnen manchmal fünf oder zehn Zigarren mitbrachte, die sie dann wieder verkauften. Sie schliefen in einem engen, trostlosen Raum hinterm Laden. Dabei war das eine Mädchen hochschwanger. Der Schuster gegenüber und dessen Anhang führten einen dauernden Kampf gegen die armen Dinger, warfen ihnen Stinkbomben in den Laden und schikanierten sie auf häßlichste Weise.

      Ich war wieder mit Büroarbeiten beschäftigt, reiste auch in der Umgegend, wodurch ich den Taunus und viele hessische Orte kennenlernte. So fuhr ich nach Fulda und saß andermal auf einem Dach in Wiesbaden.

      Einmal hatte ich auf einem Neubau Dachdecker zu beaufsichtigen. Als ich auf dem obersten Holzsteg des Gerüstes am Dach entlang schritt,

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