Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz страница 61
Ich schrieb an Miß Hines nach Wakefield einen kitschigen und verlogenen Brief. Ob sie eine Rettung für mich wüßte, sonst müßte ich mich erschießen. Ich ließ nichts unversucht. Der Kantor der deutschen Kirche, dem ich meine Lage vertraute, nachdem ich zuvor dem Gottesdienst beigewohnt hatte, wies mich an verschiedene Adressen, aber überall wurde ich freundlich vertröstet oder liebenswürdig weiterempfohlen. Es blieb immer das gleiche: ermüdende Wege, verlorene Zeit. In der Berlitz-School, wo ich mich um eine Stellung als deutscher Lehrer bewarb, riet man mir, im nächsten Monat nochmals vorzusprechen, weil dann ein zweiter deutscher Lehrer eingestellt würde.
Ich ging zum deutschen Konsul, jenem Konsul, der mir vor Jahren das Porto und das Briefpapier berechnet hatte. Er beteuerte, wie gern er seine Landsleute unterstützen möchte. Aber die Konjuktur wäre gegenwärtig unter dem Hund. Viele Schiffe lägen auf. – –
Ich lebte nurmehr von Käse und Brot. Einem einzigen Luxus vermochte ich nicht zu entsagen: Ich rauchte die besten englischen und ägyptischen Zigaretten bis zuletzt, bis ich außer der Wochenmiete für mein Zimmer kein Geld mehr besaß. Da traf es sich, daß ich mir zufällig zwei Penny verdiente, indem ich einem Manne einen Korb Salzgurken heimtrug. Auf dem Rückwege hielt ich vor einem Torweg, wo ärmliches Volk, Frauen, Männer und auch Kinder die neuesten Zeitungen gegen Bezahlung in Empfang nahmen.
Mit dem Augenmerk der Arbeitslosen überflog und erfaßte ich die Angelegenheit, mischte mich unter die kümmerlich eifernden Leute und erstand für zwei Penny sechs Exemplare der »Daily Mail«. Wie ich's an anderen täglich beobachtet hatte, so stürmte nun auch ich durch die Straßen und schrie laut aus: »Daily Mail half penny!« Ja, ich ahmte sogar den Jargon der Huller Zeitungsjungen nach: »Dehlimehl hepenny!« Weil ich dadurch komisch wirkte und mich, erfreut über meinen neuen Beruf, sehr dreist benahm, ward ich meine Ware im Umsehen los, raste zurück, kaufte nun für drei Penny neun Zeitungen und brachte diese ebenso schnell an den Mann, daß ich nochmals neue beschaffen konnte und am Abend einen netten Gewinst errechnete. Ich schlief zum erstenmal im Hause Scott zufrieden ein.
Aber meine Einnahmen wuchsen in der Folgezeit nicht progressiv, wie ich das kalkuliert hatte. Und ich gab das neue Metier und gab meine Pläne, meinen Stolz und Hull und mich selber auf.
Weder auf das Inserat noch auf den Brief an Miß Hines war eine Antwort eingetroffen. Ich zahlte die Wochenmiete, da sie fällig war, und schickte mich beklommenen Herzens an, meinem Zimmernachbarn, dem deutschen Pastor, einen Besuch abzustatten, um ihm mein Herz auszuschütten und ihn zu bitten, mir zu einer freien Überfahrt nach Antwerpen zu verhelfen.
Leider habe ich den Namen des Pastors vergessen. Er sprach ruhig, sachlich, ehrlich und aus gutem Herzen. Er wäre überlaufen von deutschen Stellungs- und Obdachlosen. Er sei nicht in der Lage, so vielen Menschen ausreichend zu helfen. Aber der Pastor schenkte mir aus eigener Tasche vier Schillinge und gab mir einen verschlossenen Brief an den Kapitän eines nach Antwerpen bestimmten Dampfers mit. Daraufhin gewährte man mir bereitwilligst freie Überfahrt.
Ich nahm mir vor, dem Pastor die vier Schillinge mit einem Zeichen meiner dankbaren Hochachtung, sobald ich irgend vermöchte, zurückzusenden. Das habe ich dann nie getan.
In Antwerpen erging es mir noch schlechter als in Hull. Zwar ließ man mich in einfachen Kneipen Mandoline spielen. Aber die Zuhörer verlachten und verspotteten mich, und nur selten warf mir jemand eine Münze zu.
Wieder lief ich von früh bis spät nach Arbeit, lief mir die Sohlen und die Seele wund. Ich wohnte in einem winzigen Dachstübchen. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben rann das Regenwasser in mein Bett. Das Bett war eine Kiste mit einem Strohsack und einer Wolldecke.
Schließlich war ich durch Entbehrungen, Enttäuschungen und Anstrengungen so zermartert, daß ich nicht mehr die Kraft aufbrachte, das Bett zu verlassen und mich nurmehr von Marmelade ernährte. Tagelang. Wie in Grimsby auf dem Fischdampfer »Columbia«, nur daß ich damals aus Übersättigung nichts anderes anrührte und diesmal nichts anderes hatte.
Und ich sann bitter und ungerecht über mein Schicksal nach und war darauf gefaßt, dort wie ein verstoßener Hund zu verrecken. Weder meine Eltern noch meine Freunde konnten ahnen, wo und in welcher Verfassung ich war. Aber wen hätte meine Lage 'bekümmert, fragte ich mich und dachte an Martin Fischer und dachte an alle schlechten Menschen und an jedes Mißgeschick, das mir widerfahren war, und dann – allmählich in Schlaf und Träume verfallend – an Besseres und Gutes, an edle Menschen, an den Schweizer Drasdo in Basel, an die Lady auf den Zementsäcken in Hull, – an – –
Nach einem langen Ausruhen erhob ich mich endlich mit Energie, wusch mich von oben bis unten, zertrümmerte, um meine Kraft zur Kühnheit anzufachen, mit einem Fußtritt die linke Bretterseite meiner Bettkiste und begab mich zu einem kleinen Barbier, den ich fragte, ob er mir für die letzten mir verbliebenen Geldmünzen Haar und Bart oder beides schneiden wollte. Er ging auf alles ein mit einem scheinheiligen Eifer und horchte mich dabei neugierig aus. Oh, er wüßte jemand, der mir beistehen würde, und er wollte mich zu dessen Haus führen, ohne Entgelt, und er wünschte mir alles Beste.
Tatsächlich begleitete er mich vor das Haus des deutschen Pastors in Antwerpen.
Auch dessen Namen weiß ich nicht mehr. Ich kam übrigens zu unrechter Stunde. Der Herr war nicht zu sprechen, war erst mittags und dann erst abends und dann erst morgen zu sprechen.
Ich trug meine Geschichte offen vor und fragte, ob er mir zu einer bescheidenen Anstellung verhelfen könnte oder sonst zu einem Schiff, das mich gegen Arbeitsleistung nach Deutschland mitnähme.
Auch dieser Pastor war ein stiller Mann. Er nickte nur während meines Vortrages, schrieb dann einen Brief, den er verschloß und adressierte. Ich sollte diesen Brief unverzüglich persönlich abgeben und auf Antwort warten.
Ich sprudelte Dankesworte heraus und eilte davon und übergab dem Adressaten erwartungsvoll das Schreiben. Der las es und ließ mich unverzüglich – ins Gefängnis werfen.
In ein richtiges Gefängnis, in eine Einzelzelle mit wenig Licht, das durch ein unerreichbar hoch angebrachtes, vergittertes Fenster einfiel. Eine Pritsche und ein Wasserkrug standen dort. Meine Mandoline, mein Köfferchen und alles, was ich in den Taschen trug, ja sogar Hosenträger und Kragenknöpfe hatte man mir vorher, während ich unter Beaufsichtigung in ein Bad steigen mußte, stillschweigend weggenommen.
Das war alles so plötzlich und schnell über mich hereingebrochen, daß ich erst zur Besinnung kam, als die Zellentür ins Schloß fiel.
Offenbar war ich das Opfer einer Verwechslung. Ich pochte, schlug, trat gegen die Tür. Da nahten Schritte. Eine schmale Klappe in der Tür ward aufgetan, und das rohe Gesicht eines Wärters grinste mich an. Er brummte ein paar flämische Flüche, und ich stammelte ungelenk französische Worte. Ich verfügte an sich nur über geringe Kenntnisse der französischen Sprache, nun aber war ich vor Aufregung völlig verwirrt. Der Wächter schlug wütend die Klappe zu. Seine Schritte verhalten. Ich bebte vor Zorn.
Aber der Irrtum mußte sich aufklären. Ich hatte ja Papiere bei mir, darunter meinen Militärpaß mit der Bestätigung, daß ich einjährig-freiwillig gedient hatte. Und ich hatte ein reines Gewissen. Und ich konnte mir auch sofort telegraphisch Geld verschaffen. Von den Eltern oder von Bekannten.
Mit welchem Recht war ich verhaftet worden? Das konnte nur auf einem Mißverständnis beruhen. Es war doch nicht auszudenken, daß der deutsche Seelsorger, um mich loszuwerden, mich so schändlich und hinterlistig verraten hatte.
Mittags wurde ein Napf Suppe durch die Klappe geschoben. Ich rief: »Pardon, monsieur, je – –.« Die Klappe schlug zu. Der