MUSIK-KONZEPTE 190: Giacomo Puccini. Группа авторов
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Puccini gehörte aber sehr lange Zeit gerade nicht zum Kreis jener Komponisten, mit denen sich besonders eine deutschsprachige Musikwissenschaft auseinandersetzen mochte. Dieses Phänomen von Ausblendung und Negierung der Würdigung seiner Werke wurde von Dieter Schickling zu Recht als »programmatische Nichtbeachtung« und »jahrzehntelange Geringschätzung«1 beschrieben. Das hat sich – wie zu zeigen sein wird – erst in den 1990er Jahren durch konsequent auf internationale Diskussion und Vernetzung setzende Forscher-Persönlichkeiten in grundlegender Weise verändert. Diese zeitliche Verzögerung des Einsetzens einer substanziellen, kritischen Puccini-Forschung unterscheidet sich insofern von sicherlich zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen, als Puccini eben weitaus mehr darstellt als lediglich ein rezeptionsgeschichtlich kontinuierliches Breitenphänomen, das man despektierlich und als der Kunstreflexion wie wissenschaftlichen Erschließung nicht würdige, niedrigstehende Unterhaltungsmusik beiseiteschieben könnte. Bekannt, ja, aber nicht erklärungsbedürftig, hieße pointiert diese inzwischen überwundene Einstellung, die sich im Falle Puccinis durch eine fortschreitende, quellenkritisch gestützte wissenschaftliche Aufarbeitung auch jenseits abwertender Ignoranz im Übrigen als unhaltbar erwiesen hat. Puccinis Œuvre für die Opernbühne besitzt so überdeutlich hohe Anteile an Singularität, dass seine musikhistorische Bedeutung inzwischen auch in der erweiterten Wissenschaftsgemeinde außer Frage stehen dürfte dank der, wenngleich verspäteten, Rehabilitierungsleistung ausgewiesener Forschender nicht allein italienischer Provenienz. Puccini gehört damit zu jener Kategorie von Komponisten, bei denen sich Erklärungen im wissenschaftlichen Kontext größtenteils erübrigen, die verharren auf der Ebene von Werkparaphrasierung, Verständnisanleitung oder Begründungsspekulation über ausbleibende Wirkung – also meist als Kritik an der Oberfläche des Werktextes verhaftet bleiben. Puccini verlangt nach Tiefenerschließung. Und vor dem Hintergrund der konstanten Wirkmächtigkeit seiner Opern bleibt das Phänomen des scheinbar zeitenthobenen Vertrauten und Selbstverständlichen seiner Kunst ganz im Gegenteil ein erklärungsbedürftiger Fakt. Dieser wesentliche Aspekt, mit dem jede Puccini-Forschung umgehen muss, kann indes nicht ohne eine kompetente Aufarbeitung von Zeitkontext, Biografie und Opernschaffen diskutiert werden, benötigt also die Basis detaillierter Partituranalysen (Notentext, Libretto), welche ganz entschieden die bisweilen äußert komplexen Werkgenesen zu berücksichtigen hat, unter Hinzufügung aller aufführungsrelevanten Quellmaterialien und wirkästhetischer Parameter, die Puccini mitgestaltete wie beispielsweise die immer stärker in den Fokus rückende visuelle Dimension gerade seines Spätwerkes (also generell: Szenenanweisungen, disposizioni sceniche2, Selbstaussagen des Komponisten usw.). Vieles ist schon geleistet worden und wartet darauf, auch außerhalb des einschlägigen Fachkollegiums zur Kenntnis genommen zu werden. Vieles aber – so der hier darzulegende Zwischenbefund – steht noch aus.
I Rückblick in die jüngste Vergangenheit
Zeitdimensionen in der Wissenschaft sind relativ: Eingedenk der allgemeinen temporären Dynamiken wissenschaftlicher Aufarbeitung, die in der Opernforschung aufgrund der Komplexität des per se interdisziplinär-verflochtenen Gegenstands (Zusammenwirken unterschiedlicher ästhetischer Ausdrucksformen; Ereignischarakter der Aufführung usw.) verstärkt den Charakter entschleunigter Prozesse annehmen, fällt es mit Blick auf Puccini schwer, von einer bereits existenten ›älteren‹ Forschung im Allgemeinen zu sprechen, die inzwischen von einer ›neueren‹ abgelöst worden wäre. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Puccini lässt sich daher zutreffender als neue bzw. neueste Forschung kennzeichnen. Das Jahr 1996, in dem das Centro studi Giacomo Puccini (http://www.puccini.it) von den führenden internationalen Puccini-Forschern als privater Verein in seiner Geburtsstadt Lucca gegründet wurde, kann rückblickend als wichtige Institutionalisierungsleistung und formelle Zäsur gewertet werden. Sie erwuchs indes aus wesentlichen wissenschaftlichen Aktivitäten und Forschungsimpulsen bereits seit den 1980er Jahren,3 markiert also keine inhaltliche Neu- oder gar Gegenorientierung, sondern eine stringente Konsolidierung und Etablierung einer unabhängigen und kritischen Puccini-Forschung, die in dieser Form noch nicht lange existent, geschweige denn institutionell gebunden war. Kaum eine der wesentlichen Publikationen der letzten Dekaden ist außerhalb der Einflusssphäre dieses Forscherverbundes entstanden, wie ein kurzer Blick auf die standardsetzenden Monografien zeigt, ohne deren Konsultation keine kompetente Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten heute möglich erscheint. Michele Girardis Werkanalysen, Giacomo Puccini. L’arte internazionale di un musicista italiano, erschienen erstmalig 1995 und wurden im Jahr 2000 ins Englische übersetzt.4 Zwei Jahre später legte der namhafte britische Verdi-Forscher Julian Budden eine Puccini-Monografie5 vor, noch bevor Dieter Schickling mit seinem systematischen Werkkatalog von 2003 das akribisch erarbeitete Elementarwissen über das musikalische Œuvre Puccinis veröffentlichte6.
Diese Marksteine haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind kaum älter als annähernd 25 Jahre – in akademischer Zeitrechnung also noch ›neu‹ – und wurden mehrheitlich in englischer und italienischer Sprache publiziert. Letzteres mag den im internationalen Kontext Forschenden nicht tangieren, ist aber mit Blick auf die Sedimentation wissenschaftlicher Erkenntnis und das Einwirken auf einen erweiterten Rezipientenkreis ein reales, verzögerndes Hindernis der Wissenskommunikation. Für den deutschsprachigen Raum und das Puccini-vertraute Publikum einer historisch singulär gewachsenen Dichte an Theatern und Orchestern, deren Aufnahme in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes möglicherweise zeitnah gelingen kann, schlägt diese Diskrepanz zwischen aktuellem Forschungsstand und ›allgemeinem‹, ›breitem‹ Reflexionshorizont von Operngängern, Musikjournalisten, Gesangsolisten, Dramaturgen und Operndirektoren usw. besonders negativ zu Buche. Ablesen lässt sich dieser nachdenklich stimmende Befund am Beispiel des 2016 erschienenen musikalischen Werkführers zu Puccinis Opern aus der Feder des renommierten Opernpraktikers Gerd Uecker, der allerdings die oben lediglich mit ihren wichtigsten Monografien erwähnte ›neue‹ Puccini-Forschung vollständig ausblendet – von der ›neuesten‹ ganz zu schweigen.7 Das 2017 vom Autor dieses Beitrags herausgegebene Puccini Handbuch (Anm. 1) hatte sich aus dieser langjährig angestauten Problematik heraus auch zum Ziel gesetzt, in der synoptischen Form des Handbuch-Genres dem durch Sprachbarrieren entstandenen Wissensgefälle entschieden entgegenzuwirken. Von einem solchen Rückfall der deutschsprachigen Fachliteratur explizit ausgenommen ist die biografische Forschung