Der einsame Mann. Clara Viebig

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Der einsame Mann - Clara Viebig

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da unter einem Stein und liess ihre Glöckchenstimme erklingen. Hans-Helmut zählte den Unkenruf; immer »Unk« und wieder »Unk«, aber auch diese Eintönigkeit stillte nicht seine Erregung. Die Stunden vergingen. Es mochte nach Mitternacht sein.

      Da öffnete sich leise die Tür des Zimmers, der Oberst streckte vorsichtig seinen Kopf herein. Er hatte etwas gehört, etwas Unbestimmtes, das ihn aufgeschreckt hatte aus erstem Schlaf. Er hatte sich aufgesetzt und gelauscht: horch, immer Tappen, verstohlene Tritte!

      »Wer da?« Seine erhobene Hand hielt eine Pistole. Mit einem Laut der Verwunderung und einem Lachen liess er sie jetzt sinken: »Junge, du?«

      Wie ein ertappter Verbrecher stand der Knabe. Mit bleichem Gesicht, die Augen weit aufgerissen, starrte er den Eintretenden an.

      Der Oberst zog leise die Tür hinter sich ins Schloss. »Was hast du, mein Junge?«

      Hans-Helmut stand noch immer erschrocken. Was sollte er sagen, damit er das nicht verriet, das, was er nicht aussprechen konnte, was ihm selber unerklärlich war und was doch da war, flatternd wie eine Fledermaus aus dunklen Ecken. »Ich konnte nicht schlafen,« stiess er tonlos heraus. Er stand da, angezogen noch wie am Tag, nichts aufgeknöpft, nichts von sich getan, das Bett wohl aufgeschlagen, aber das Kissen ganz glatt, man sah es, er hatte noch nicht darin gelegen. Er fühlte, das Auge des Mannes ruhte forschend auf ihm. Er versuchte ein Stottern. Da legte sich eine Hand fest auf seine Schulter.

      »Lass nur, mein Sohn, lass!« Es war dem Oberst plötzlich, als sähen seine eben noch verschlafenen Augen ganz hell, als würde vor ihnen ein Vorhang weggezogen; sie sahen jetzt, was sie bisher noch nicht gesehen hatten: der da wurde jetzt gross. Jetzt kamen die Stunden, die jeder durchmachen muss, wenn die Kinderschuhe zu eng geworden sind, wenn das Blut sich regt, wenn im jungen Baum der Saft anfängt zu steigen. Ihm lag jene Zeit schon so weit, aber er erinnerte sich ihrer heute, jetzt, auf einmal. Er wusste wieder, wie so einem Jungen zumut ist, der noch nicht weiss: wohin, weswegen?!

      »Du kannst nicht schlafen,« sagte er — seine Stimme knarrte nicht, sie war mild — »ich auch nicht. Komm, Hans-Hänschen« — er klopfte dem verwirrt Dastehenden auf die Schulter — »wir sitzen noch ein bisschen zusammen. Ich erzähle dir von mir was, du erzählst mir von dir was. Das bringt uns dann beide zur Ruh.« Den Widerstrebenden und doch gern Folgenden zog er neben sich.

      Da sassen sie nun beide auf dem Bettrand, der Alte und der Junge. Und der Oberst redete von Gott weiss was, von eigentlich ganz belanglosen Dingen: von Ausroden im Garten, von der Rosenhecke, die sich zu breit machte, von der Geissblattlaube, die gestutzt werden musste, und dass überhaupt mal mit der Schere ordentlich dreingefahren werden musste. »Es kann doch nicht alles so aus Rand und Band geraten im Garten — — und man kann auch sich zuviel Gedanken machen,« sagte er dann plötzlich ohne jeden Zusammenhang. Ach, dass er so ungeschickt war! Er hätte jetzt so vieles sagen, dieser jungen aufgeschreckten Seele so manches leichter machen können, die Stunde war gekommen; aber das Sprechen war nicht seine Sache. In einer gewissen verlegenen Hast wiederholte er nur immer wieder: »Ja nicht zuviel denken, nicht zuviel denken, das Grübeln ist für gar nichts, für gar nichts. Ich habe auch mal gegrübelt, glaube ich — früher — ich habe mir sogar mal eine Kugel durch den Kopf schiessen wollen wegen einer jungen blonden Dame, der ich unter der Kastanie beim Regimentsfest meine Liebe gestanden hatte, meine heisse Liebe, und die mich doch nicht wollte. Es geht alles vorüber, Hans-Hänschen. Es geht alles vorüber!«

      »Nein, es geht nicht alles vorüber!« Der junge Mensch schrie plötzlich auf, warf seinen Kopf dem erschrockenen Mann an die Brust und umfasste ihn mit beiden Armen. »Es geht nicht alles vorüber — ich habe Angst!«

      Fünftes Kapitel

      In das stille kleine Haus draussen vor der Stadt war Unruhe gekommen. Niemand ahnte, dass Unruhe da war, erstaunt hätte der Oberst gefragt: »Unruhe, wieso?« Frau Doktor nannte dieses, was gekommen war und sich verbreitete von der Mansarde oben bis hinunter zur Küche: fröhliches Leben.

      In der Küche sang Maria Kaspers und klapperte mit den Herdringen. Sie war jetzt immer da. Frau Doktor war eines Tages ohnmächtig geworden; in der Küche beim Mittagkochen hatte sie plötzlich gesagt: »Mir ist gar nicht recht wohl,« hatte nach einem Stuhl gefasst und war umgefallen. Ein Glück war es, dass der Sohn bei ihr stand; er hatte sie auffangen wollen, aber sie war ihm doch niedergeglitten auf die Fliesen. Auf seinen Hilferuf kam der Oberst herbei. Sie trugen sie miteinander auf ihr Bett, und Hans-Helmut jagte schreckensbleich in die Stadt, um den Arzt zu holen.

      Es ging nicht mehr, dass Frau Doktor so viel allein schaffte. Eine ständige Hilfe musste ins Haus, nicht bloss morgens zwei Stunden die alte Vettel, die Kaspers, wie Doktor Bär grob sagte. Wenn die Männer nun aus waren und so etwas wieder vorkam? Die Ohnmachtzustände konnten sich wiederholen. Der Arzt machte ein ernstes Gesicht. Und dann sagte er dem Oberst draussen im Flur, wo sie allein waren, dass es mit dem Herzen von Frau Doktor Arndt nicht in Ordnung war. Eine Muskelerschlaffung, und das Herz war auch zu gross, eine Erweiterung. Oh, was war denn da zu tun?! Erschrocken sah ihn der andere an. »Ich schreibe etwas auf, ein Herzmittel, und dann vor allem Ruhe. Schonung in jeder Beziehung. Weder körperliche Anstrengungen noch seelische Erregungen.« —

      Der Oberst war ins Städtchen gegangen, um nach einer Hilfe für den Haushalt zu suchen. Aber er hatte keine gefunden, keine Frau, kein Mädchen. Die brauchbaren waren alle vergeben, hatten ihre Stellen, und jetzt war keine Ziehzeit. In einer gewissen Verzweiflung ging er wieder heim, die Füsse taten ihm weh, stundenlang war er herumgelaufen auf dem holperigen Pflaster, war Treppen gestiegen, die so steil waren wie Hühnerleitern, hatte sich auf dunklen Höfen herumgetastet, von einer Stelle war er zur anderen geschickt worden. Bei der Kaspers war er zuerst vorgegangen: wusste sie vielleicht jemanden? Aber die war ungnädig: nein, sie wusste keinen. Die Stelle so weit draussen war ihr oft unbequem gewesen, sie hatte genug darüber geschimpft, aber gut war die doch gewesen, sehr gut, sie gönnte die keiner anderen.

      Den langen Weg von der Stadt nach Haus ging der Oberst in Gedanken versunken. Neben seiner Strasse lief der Fluss. Der hatte ihn oft mit seinem sanften Gleiten beruhigen müssen, es können ja nicht alle Stunden nur angenehme sein in so langen Jahren. Aber heute sah er den Fluss nicht mehr, der Herbstabend nebelte bereits dunkel. Eine verteufelt unangenehme Situation! Wenn die gute Frau Doktor nun nicht mehr voran konnte, wenn es ihr unmöglich war, ohne Magd den Haushalt zu besorgen, und man keine Hilfe bekam — was dann?! Er sah sich schon wieder auf der Wanderschaft, sah sich unterschlüpfen in einem Hotel oder in irgendeiner Pension — wie unbehaglich, wie unpersönlich, ach, wie heimatlos! Ja, eine Heimat hatte er hier gefunden, hier war er nicht Mieter und nicht Junggesell, hier war er Hausherr und Vater. Durch ein Gefühl der Zugehörigkeit war er mit jenen verbunden, die in dem kleinen weissen Hause wohnten. Ein Schrecken, der einem Schmerz glich, überfiel ihn jäh: wenn er sich nun von denen trennen müsste?!

      Atemlos kam er zu Hause an, er war stark zugeschritten, in einer plötzlichen Sehnsucht war er fast gerannt. Wie ein freundlicher Stern, ihn vertraut begrüssend, brannte das kleine Lämpchen im Hausflur. Bei seinem Eintritt öffnete sich die Stubentür, und der Frau Doktor noch recht blasses Gesicht lächelte ihn an. Mit jenem sanft-wehmütigen Lächeln, das wie stiller Mondschein auf abgeblühtem Garten war.

      »Meine gnädige Frau!« Er war ganz bewegt. Er ergriff ihre Hand und küsste sie: »Gott sei Dank, dass Sie wieder so weit wohl sind! Aber nun Vorsicht! Sie dürfen sich gar nichts zumuten!«

      Aber wie sollte das möglich sein? Sie sassen schon lange beisammen im Zimmer mit der blauen Tapete und überlegten. Hans-Helmut war voller Eifer, er hatte den Abendtisch gedeckt und wieder abgedeckt. Auch der Oberst liess es sich nicht nehmen, zu helfen, er trug die Teekanne und das Brot, aber geschickt war er nicht, aus der Kanne vergoss er, das Brot liess er fallen.

      Mit einem nervösen Unbehagen sah

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