Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Sir Arthur Conan Doyle
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„Ja so,“, sagte er, „ich vergass, dass ich dich seit einigen Wochen nicht gesehen habe. Das verehrte mir der Fürst von O ... als kleines Andenken für meine Bemühungen um die Papiere der Irene Adler.“
„Und dieser Ring?“ fragte ich und blickte auf einen auffallend schönen Diamanten, der an seinem Finger glänzte.
,,Den erhielt ich von einem Mitglied des holländischen Königshauses; doch die Sache, mit der ich betraut war, ist so subtiler Art, dass ich sie nicht einmal dir anvertrauen kann, da du so freundlich gewesen bist, einige meiner kleinen Erlebnisse niederzuschreiben.“
„Ist wieder etwas im Werk?“ fragte ich begierig.
„Wohl zehn bis zwölf verschiedene Fälle, doch ist keiner besonders interessant, wenn sie auch wichtig genug sind. Geringfügige Angelegenheiten bieten meist ein weites Feld für die Beobachtung und die rasche Ergründung von Ursache und Wirkung, welche einer Untersuchung den Hauptreiz verleiht. Grosse Verbrechen spielen sich meist einfach ab, denn, je grösser das Verbrechen, um so klarer ist der Regel nach der Beweggrund dazu. Unter meinen jetzigen Fällen ist, bis auf eine dunkle Geschichte, die mir von Marseille aus vorgelegt wurde, keiner erwähnenswert. Vielleicht aber bringen uns die nächsten Minuten das Gewünschte, denn, irre ich nicht, so kommt da drüben eine Klientin für mich.“
Holmes hatte sich von seinem Stuhl erhoben, er stand am Fenster und blickte auf die düstere, graue Strasse hinab. Ich trat hinter ihn und sah auf der andern Seite der Strasse eine grosse Frau mit einer schweren Pelzboa um den Hals und einer grossen roten Schwungfeder auf der breiten Krempe ihres Hutes, der ihr kokett auf einem Ohre sass. Unter diesem breiten Dach blickte sie unruhig und unschlüssig zu unsern Fenstern herauf; sie schien zu schwanken, ob sie vor- oder rückwärts gehen sollte, und ihre Finger zupften nervös an den Handschuhknöpfen. Plötzlich eilte sie rasch über die Strasse, wie der Schwimmer, der vom Ufer abstösst, und laut ertönte der schrille Klang der Hausglocke.
„Diese Symptome kenne ich,“ sagte Holmes und warf seine Cigarre ins Feuer. „Unentschlossenheit an der Thürschwelle — weist stets auf eine Liebesgeschichte hin. Sie möchte sich Rat holen, doch schwankt sie noch, ob nicht die Angelegenheit zu zart für einen dritten ist. Aber selbst dabei lässt sich manches unterscheiden. Ist einer Frau von einem Manne schweres Unrecht geschehen, dann ist sie entschlossen, sie reisst an der Klingel, ja sie zerreisst sie. Hier haben wir es mit einer Herzensangelegenheit zu thun, und die Dame ist sichtlich weniger aufgebracht, als ratlos und bekümmert. Ah, da kommt sie ja schon und kann unsere Zweifel lösen.“
Als Holmes noch sprach, klopfte es an die Thür; der kleine Diener trat ein, um Fräulein Mary Sutherland anzumelden, welche hinter seiner dünnen schwarzen Gestalt auftauchte, wie ein Kauffahrteischiff mit aufgespannten Segeln hinter einem zierlichen Kutter. Sherlock Holmes begrüsste die Fremde mit der ihm eignen Gewandtheit, schloss die Thür, bot ihr einen Lehnsessel an und musterte sie auf seine gewohnte, durchdringende und scheinbar zerstreute Art.
„Finden Sie nicht, mein Fräulein,“ fragte er, „dass das viele Maschinenschreiben Sie bei Ihrer Kurzsichtigkeit ein wenig angreift?“
„Allerdings war das im Anfang der Fall,“ erwiderte sie, „jetzt aber weiss ich, wo die Buchstaben sind, ohne hinzusehen.“ Plötzlich wurde ihr die ganze Tragweite seiner Worte klar, sie erschrak heftig, und Angst und Staunen malten sich auf ihrem breiten, gutmütigen Gesicht. „Sie haben schon von mir gehört, Herr Holmes,“ rief sie aus, „wie könnten Sie das sonst wissen?“
„Lassen Sie es gut sein,“ rief Holmes lachend, „das gehört zu meinem Geschäft. Ich lege es darauf an, manches zu sehen, was andern entgeht. Wäre dem nicht so, weshalb kämen Sie zu mir, um sich Rat zu holen?“
„Ich kam zu Ihnen, Herr Holmes, weil Frau Etherege mir von Ihnen erzählte; Sie fanden ihren Mann so leicht auf, während die Polizei und alle Welt ihn schon für tot hielt. Ach, Herr Holmes, könnten Sie doch auch für mich ein Gleiches thun! Ich bin nicht reich, habe jedoch ein Jahreseinkommen von hundert Pfund ausser dem, was ich durch meine Arbeit verdiene. — Alles gäbe ich gern hin, um zu erfahren, was aus Herrn Hosmer Angel geworden ist.“
„Warum halten Sie es plötzlich so furchtbar eilig, zu mir zu kommen?“ fragte Sherlock Holmes, legte die Fingerspitzen aneinander und blickte nach der Decke hinauf.
Wieder zeigte sich Staunen und Befremdung auf dem sonst ziemlich nichtssagenden Gesicht der jungen Dame.
„Ja, ich stürzte von Hause fort,“ sagte sie, „denn ich ärgerte mich über die Gleichgültigkeit, mit welcher Herr Windibank — mein Vater — die ganze Sache aufnahm. Er wollte nicht auf die Polizei, wollte nicht zu Ihnen, und da er gar nichts that und dabei blieb, die Sache habe wenig auf sich, wurde ich schliesslich böse, nahm Hut und Mantel und kam geradeswegs zu Ihnen.“
„Ihr Vater?“ fragte Holmes, „gewiss Ihr Stiefvater — da Sie nicht seinen Namen tragen.“
„Ja, mein Stiefvater. Ich nenne ihn Vater, und doch klingt das komisch, denn er ist nur fünf Jahre und zwei Monate älter als ich.“
„Lebt Ihre Mutter?“
„Die Mutter lebt und ist wohlauf. Sehr entzückt war ich nicht, Herr Holmes, als sie so bald nach Vaters Tode wieder heiratete, und zwar einen Mann, der fast fünfzehn Jahre jünger ist als sie selbst. Mein Vater war Flaschner in Tottenham Court-road und hinterliess ein hübsches Geschäft, das die Mutter mit Herrn Hardy, dem ersten Gehilfen, fortführte. Als aber Herr Windibank kam, musste sie das Geschäft verkaufen, denn als Weinreisender stand er auf einer höheren Gesellschaftsstufe. Sie bekamen viertausend siebenhundert Pfund Sterling für die Firma; mein Vater hätte bei Lebzeiten weit mehr bekommen.“
Statt dass Sherlock Holmes, wie ich erwartete, bei dieser breiten, abschweifenden Erzählung ungeduldig wurde, hörte er mit der grössten Aufmerksamkeit zu.
„Stammt Ihr kleines Einkommen aus dem Geschäft?“ fragte er.
„O nein, ich erbte es von meinem Onkel Ned in Auckland. Es sind Neuseeländer Aktien, die 4½ % tragen. Die Hinterlassenschaft betrug zweitausend fünfhundert Pfund, aber ich habe nur die Zinsen davon.“
„Bitte, erzählen Sie weiter,“ meinte Holmes. „Da Sie die hübsche Summe von hundert ₤ einnehmen und noch etwas dazu verdienen, reisen Sie gewiss manchmal zum Vergnügen und geniessen Ihr Leben. Mir scheint, eine Dame kann mit einem Einkommen von sechzig ₤ ganz gut leben.“
„Ich käme mit weit weniger aus, Herr Holmes, doch begreifen Sie wohl, dass ich, solange ich zu Hause bin, den Eltern nicht zur Last fallen möchte, und so haben sie die Verfügung über mein Geld, bis ich einmal von ihnen fortkomme. Selbstverständlich nur bis dahin. Herr Windibank zieht meine Zinsen vierteljährlich ein und giebt der Mutter das Geld, denn ich komme mit dem, was ich an der Schreibmaschine verdiene, ganz bequem aus. Ich erhalte zwei Pence für die Seite und bringe meist fünfzehn bis zwanzig Seiten am Tage fertig.“
„Sie haben mir Ihre Lage sehr klar dargelegt,“ sagte Holmes. „Dieser Herr ist mein Freund, Dr. Watson, vor dem Sie offen reden können, wie vor mir selbst. Bitte, erzählen Sie uns von Ihrer Bekanntschaft mit Herrn Hosmer Angel.“
Fräulein Sutherland errötete und zupfte erregt an den Fransen ihrer Jacke. „Ich sah ihn zuerst auf dem Ball der Gastechniker,“ sagte sie. „Bei Lebzeiten des Vaters schickten sie uns Karten dazu, und auch nach seinem Tode luden sie uns ein. Herr Windibank wollte uns nicht auf den Ball gehen lassen; er lässt uns nie gern in Gesellschaft gehen. Ganz wütend kann er sich ärgern,