KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
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»Kowun ist nicht erreichbar«, meldete Ken zwei Minuten später.
»Roy Chen, Tianjin«, sagte Xialong.
»Befindet sich derzeit im Urlaub.«
Sie verzichtete darauf, weitere Teilnehmer der geplanten und auf geheimnisvolle Weise von ihrem und offenbar auch von allen anderen Terminplänen verschwundenen Videokonferenz anrufen zu lassen, und verharrte unentschlossen neben dem Schreibtisch, den Verkaufsraum im Rücken. Ihr Blick verschwamm. Ihre Gedanken mäanderten umher, beschrieben Spiralen im leeren Raum, verdunsteten wie Nebelschwaden in der Sonne. Sie richtete die Augen auf ein gerahmtes, fast einen Meter hohes Foto an der Wand. Es zeigte eine Frau um die sechzig, bekleidet mit einem hellen Kostüm. Der Schnitt des Kostüms wirkte zeitlos. Umso größer war der Gegensatz zu ihrem Gesicht, das die Erfahrungen eines langen Lebens aufgespeichert hatte. Die erschlafften Wangen und das dick gepolsterte Kinn zeugten von einem starken Hang zum Genuss, die harten, kleinen Augen von Selbstbeherrschung und Geschäftssinn. Doch es lag auch etwas Verstörendes darin, eine Art Traurigkeit, gepaart mit etwas Unberechenbarem, mühsam Gebändigtem. Vielleicht lag es auch an der unkorrigierten winzigen Fehlstellung der Augen, dem schwach ausgeprägten Silberblick.
Xialong nahm nichts davon wahr, als sie sich mit langsamen, träumerischen Schritten dem Foto näherte. Der Rahmen hing so hoch, dass ihre beiden Köpfe sich auf einer Höhe befanden. Als sie unmittelbar davorstand, neigte sie sich dem Glas entgegen, lehnte ihren Kopf an den Kopf der Frau und schmiegte sich mit dem Oberkörper an das Foto, als wollte sie damit verschmelzen. Sie erschauerte, ein Stöhnen kam aus ihrem Mund. Ihre Hände öffneten und schlossen sich. Es dauerte eine Weile, bis sie Ken hörte, der sie vom Schreibtisch aus mit sanfter Stimme auf sich aufmerksam zu machen versuchte.
»Xialong, ich soll dir mitteilen, dass das neue Modell angeliefert wurde.«
Widerwillig löste sie sich von der Glasscheibe und streifte mit der Hand an sich hinunter, als entferne sie unsichtbare Klebstofffäden, die sie mit dem Foto verbanden.
»Ich komme«, sagte sie.
Tsema, der Lagerverwalter, der die Palette hereingefahren hatte, war beiseitegetreten, hatte respektvoll die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete nun, wie Zhang Sammo den Karton schlitzte und aufklappte. Er hob den Deckel der sarkophagähnlichen Styroporverpackung ab und trat zurück, damit Xialong den ersten Blick auf das neue Modell werfen konnte.
Sie trat neben die Palette, beugte sich vor und zog die Schutzfolie ab. Der Bot hieß Dali, was Große Kraft bedeutete, sein Spitzname lautete Die Herrin. Xialong aktivierte das Modell mit einem Griff in die Achselgrube. Es richtete geschmeidig den Oberkörper auf, schwenkte den Kopf, um sich zu orientieren, kletterte aus der Transportverpackung und nahm daneben Aufstellung.
Dali war ein SM-Modell. Ihr langes Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, ihre Augen wirkten durch die dunklen Augenschatten groß und unergründlich. Bekleidet war sie mit einem schwarzen Lederkorsett, schwarzem, geschlitztem Slip und schwarzen Strümpfen, die bis zur Mitte der Oberschenkel reichten. Die Strumpfhalter waren aus rot gefärbtem geflochtenem Echthaar. Die untere Gesichtshälfte und den Hals verbarg eine Gummimaske mit Nasenlöchern und runder Mundöffnung. Xialong hatte an der Entwicklung des Modells keinen Anteil gehabt und hätte auch nie zugelassen, dass es in die Premiumstores gelangte. Jetzt galt es, gute Miene zum geschmacklosen Spiel zu machen.
»Sammo, was meinen Sie?«
Jetzt, da die rituelle Inbetriebnahme hinter ihnen lag, entspannte sich Sammo und zeigte sich von seiner neugierigen Seite – vielleicht war es auch die männliche. Mit breitem Grinsen näherte er zwei Zeigefinger dem Mundloch in der Maske. Die spitz angefeilten Zähne zogen sich zurück, die Lippen wurden dicker und weicher, der Mund runder. Zhang schob die Finger hinein und bewegte sie vor und zurück. Eine Art Schmatzen war zu hören.
»Obszön!«, sagte er anerkennend.
Xialong lag ein Tadel auf der Zunge, doch sie beherrschte sich. »Ist das nicht ein wenig … zu explizit?«, sagte sie stattdessen. »Ich meine, diese … Frau mit ihrer … prägnanten Ausstrahlung hat das Zeug, die Atmosphäre des ganzen Ladens zu ändern. Sie ist eine ausgesprochen dominante Erscheinung, finden Sie nicht?«
»Sie ist eine Domina«, sagte Zhang, als wäre das ein Argument. »Und sie ist vielseitig. Ich bin sicher, sie macht nicht nur im Schlafzimmer eine gute Figur, sondern auch als Eventbegleiterin oder als Beraterin bei geschäftlichen Gesprächen. Ihre exzellente Datenbankanbindung und ihre unübertroffene Reaktivität rechtfertigen den außergewöhnlichen Preis. Wir sollten sie entsprechend in Szene setzen. Sie könnte sich zum Beispiel ständig umziehen und zwischen verschiedenen Rollen wechseln.«
Xialong kannte den Preis, und sie konnte sich denken, dass er bestimmt nicht wegen der Small-Talk-Qualitäten der Herrin so hoch angesetzt worden war. Vor ihrem geistigen Auge versammelten sich Scharen von Männern vor dem violett ausgeleuchteten Verkaufspodest. Mit gerötetem Gesicht lockerten sie sich den Hemdkragen und johlten immer dann, wenn es ans Umziehen ging.
»Darüber müssen wir uns noch unterhalten«, sagte sie mit mühsamer Beherrschung. »Aber nicht jetzt. Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«
Doch sie hatte nichts zu tun. Sie hatte sich die Zeit für einen Termin frei gehalten, der anscheinend nie verabredet worden war. Sie fuhr zu ihrem Büro hoch, schenkte sich am Kapselautomaten grünen Tee ein, setzte sich an ihren Schreibtisch und beobachtete mit leerem Kopf das Kommen und Gehen der Besucher. Immer wenn ein Verkauf abgeschlossen wurde, eilte eine uniformierte namenlose Frau herbei und reichte dem Käufer ein Getränk, das der Eingangsscanner aus der persönlichen Cloud des Betreffenden herausgelesen hatte. Xialong wusste, dass bereits bei Betreten des Geschäfts ein Wust von Daten analysiert und die relevanten Ergebnisse in Stichwortform an den Verkäufer weitergeleitet wurde, den das System für die Beratung auswählte. So war es immer; jeder, der etwas verkaufen wollte, machte das so, doch jetzt, in diesem seltsamen schwebenden Moment der Orientierungslosigkeit, kam es ihr auf einmal zudringlich und unangemessen vor.
Sie hätte gern ihre Mutter angerufen, auch wenn es ihr schwergefallen wäre, sich ihr in diesem Moment der Verunsicherung anzuvertrauen, sei es aus Angst vor Zurückweisung, aus Scham über ihr nichtverschuldetes Versagen oder schlicht und einfach Ehrfurcht. Doch ihre Mutter hatte ihren jährlichen Zweiwochenurlaub angetreten und nahm während dieser Zeit keine Gespräche entgegen. Niemand wusste, wo sie die Urlaubszeit verbrachte, ob in einem Kloster, beim Glücksspiel oder bei einem heimlichen Geliebten. Trotzdem überlegte Xialong, ob sie es nicht wenigstens versuchen sollte, doch dann schüttelte sie den Kopf, ging zur Tür, trat auf den Gang, fuhr hinunter in die Tiefgarage und setzte sich auf ihr SegBike.
2
Eigentlich hatte sie nach Hause gewollt, doch stattdessen kurvte sie ziellos durch die Gegend, vorbei an Lebenden Fassaden, Geschäften, Bürohäusern, Horden von Fußgängern und Strömen von Verkehr. Sie wartete darauf, dass sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Die unerklärliche Wendung des Tages, der sie ihrem großen Ziel einen entscheidenden Schritt hätte näherbringen sollen, hatte sie stärker erschüttert, als sie sich zunächst eingestanden hatte. Auf einmal merkte sie, dass sie fast wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt war. Einen Straßenblock entfernt ragte der Glaspalast der Himmlischen Geschöpfe auf, ein Eckgebäude mit einem kleinen Vorplatz und einem überdachten Eingang, an dem die mit dem eigenen Fahrer oder dem Bottaxi eintreffenden Kunden auch bei Regen aussteigen konnten, ohne nass zu werden. Heute war mit Autokunden kaum zu rechnen, denn auf der