KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe

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die Ebene für die Schwebfahrzeuge, die unsichtbar über der Straße verlief, war den Behörden, Politikern und einigen wenigen VIPs mit Sondergenehmigung vorbehalten.

      Mobile Händler auf wendigen SegBikes versorgten die Insassen der Fahrzeuge mit Getränken und Speisen. Einige hatten Gasflaschen mit Wasserstoff für die Brennstoffzellenautos auf den Rücken geschnallt. Junge Burschen schoben schwere Karren mit Austauschbatterien über den Gehsteig.

      Xialong stieg ab und setzte sich in zweihundert Metern Entfernung auf eine Bank. Sie fühlte sich eigentümlich losgelöst von ihrer Umgebung, so als schwebe sie einen halben Meter über dem Erdboden. Die durch die Geschäftsstraße wimmelnden Menschen kamen ihr vor wie Aliens. Etwa die Hälfte trug eine AR-Brille, bei den Jungen war der Anteil noch höher. Eingesponnen in eine Zwischenwelt aus Realem und Virtuellem, staksten sie wie Cyborgs einher. Sie gestikulierten, bewegten die Münder, machten Ausfallschritte, ohne dass ein Hindernis zu sehen gewesen wäre. Wenn sie einander anrempelten, erwachten sie für einen Moment aus ihrer Halbtrance, entschuldigten sich mit der Dreifingergeste und machten da weiter, wo sie aufgehört hatten, was immer es war. Die zahlreichen Einkaufs- und Transportbots, die summend und sirrend auf dem breiten Gehsteig unterwegs waren, hatten Mühe, Zusammenstößen auszuweichen, und verharrten immer wieder in Wartestellung, bis sich vor ihnen eine Lücke auftat.

      Xialongs Blick fiel auf einen Mann mittleren Alters mit orangefarbenem Haar. Er trug einen schlecht sitzenden grauen Anzug, den er offenbar in einem Secondhandladen erstanden hatte, einen dunkelroten Rucksack und Sandalen. Wie ein Bot mit defektem Sensorium hatte er sich an einer Straßenlaterne festgelaufen. Immer wieder machte er Anstalten weiterzugehen und drückte seinen Bauch gegen den Mast. Als ihm das nicht gelang, wich er einen Schritt zurück und schlug mit bloßen Fäusten auf die Laterne ein, die er wohl mit dem imaginären Gegner eines Overlayspiels identifizierte. In Wirklichkeit hatte er es mit dem metallenen Hohlmantel des Laternenmasts zu tun. Seine Hände waren aufgeplatzt, und das Blut tropfte auf den Boden. Entweder nahm er den Schmerz nicht wahr, oder er ordnete ihn der virtuellen Realität zu, in der er gefangen war.

      Eine Gruppe von Schaulustigen hatte sich um ihn versammelt. Die Menschen gafften und lachten, und es wurden immer mehr. Sie feuerten den Mann an. Kinder und Erwachsene drückten sich im Straßenstau die Nase an den Fensterscheiben platt. Plötzlich schoss in drei Meter Höhe über dem Stau ein dunkelgraues Schwebfahrzeug heran und senkte sich neben der Laterne auf den Gehsteig ab. Die Gaffer machten ihm Platz und schlossen sich unwillig den strömenden Fußgängerscharen an. Männer in Jeans und weißen Hemden sprangen aus dem Fahrzeug. Da es keine Kennzeichnung trug, war nicht zu erkennen, ob sie dem Geheimdienst, der Polizei oder einem mobilen Greiftrupp für AR-Opfer angehörten. Sie legten dem Verwirrten Handfesseln an und zogen ihn ins Fahrzeug, das gleich darauf emporstieg und wie ein augenloser Tiefseefisch davonglitt.

      Xialong wurde bewusst, dass ihr Com heute noch nicht geklingelt hatte. Ihr Armreif zeigte keine einzige Nachricht an, Ken hatte kein einziges Gespräch angenommen oder abgelehnt. Auf einmal kam sie sich vor wie eine Ausgestoßene. Alle Menschen hatten sie vergessen, die Welt drehte sich ohne sie weiter. Sie hob den Arm und flüsterte ins Com: »Ken, hörst du mich?«

      Sein freundliches Gesicht baute sich vor ihr auf, eine zehn Zentimeter hohe holografische Projektion. »Ich höre dich klar und deutlich, Xialong«, sagte er.

      »Dann sag mir, ob das Com defekt ist.«

      »Das Gerät funktioniert einwandfrei.«

      »Das ist unmöglich.«

      »Dein Misstrauen verletzt mich.«

      »Du bist nicht wirklich hilfreich, Ken«, sagte sie. »Und wenn ich’s mir recht überlege, bist du in dieser Situation sogar nutzlos.« Sie senkte den Arm, die Projektion erlosch. Eine winzige Version davon verweilte noch auf der kupferfarbenen Schuppenhaut des Armbands; sie schnippte das Ken-Icon weg. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie ein zweites Schwebfahrzeug, das sich über der Fahrbahn der Straßenecke näherte. Es war eine teure Limousine, ein schwarzer Rochen mit getönten Fenstern. Auch die Rotorelemente waren schwarz. Das Schwebfahrzeug bog auf den kleinen Eckplatz vor dem Himmlische Geschöpfe ein und senkte sich ab. Die Türen öffneten sich, zwei Männer in dunklen Anzügen sprangen heraus und nahmen neben dem Fahrzeug Aufstellung. Eine junge Frau mit schulterlangem Haar stieg aus, bekleidet mit einem dunkelgrauen Kostüm. Sie hielt eine dunkelgelbe Schultertasche in der Hand und schritt, flankiert von den beiden Bodyguards, zum Eingang des Geschäfts. Xialong hatte die Frau noch nie im Verkaufsraum gesehen. Sie sah sie nur schräg von hinten, doch etwas an ihren Bewegungen veranlasste sie, ihr gebannt mit den Augen zu folgen, bis sie im Gebäude verschwunden war.

      Xialong wohnte in einem Neunzig-Quadratmeter-Apartment im Wohnturm Ewiger Frieden, nicht weit vom Park der Glücklichen Familie gelegen. Ausschlaggebend für die Wahl waren die durch keine höheren Türme verstellte Aussicht sowie das Schwimmbad im höchsten, dem einundsiebzigsten Stock gewesen. Während sie, eingehüllt in die vertraute Enge der Expresskabine und die Geräusche der Belüftungsanlage und des Seilzugs, zu ihrem Apartment hochfuhr, stellten sich beruhigende Bilder ein, welche die verstörenden Ereignisse des noch jungen Tages relativierten. Ken – eine andere, fehlerfrei funktionierende Version von Ken – würde sie begrüßen. An der Wand hinter dem Esstisch würde die Überraschungslandschaft des Tages leuchten, und in den Himmel eingebettet wären die wichtigsten Nachrichten, darunter ein kleines Videoselfie von Choum, der ihr mitteilte, dass er das nächste Treffen gar nicht erwarten könne. Sie würde die Antwort hinauszögern und sich stattdessen die Entschuldigungen der Regionaldirektoren vorlesen lassen, die aufgrund eines Softwarefehlers in der firmeninternen Terminverwaltung die Videokonferenz versäumt hatten. Auch mit diesen Antworten würde sie sich Zeit lassen. Irgendwann aber würde die Konferenz stattfinden, sie würde die neue Strategie festlegen und am Ende die ganze Firma übernehmen, wie ihre Mutter es wollte.

      Mit leisem Fauchen glitt die Kabinentür auf. Als sie auf den Gang trat, streifte etwas ihr Gesicht. Sie schlug es mit Hand weg, dann erst hörte sie das Sirren, Schwirren, Brummen. Der Flur war voll Insekten: blaue und gelbe Schmetterlinge, braune und graue Motten mit dicken Leibern. Sie saßen auf den mit klassischen Pflanzendarstellungen geschmückten Wänden und krabbelten über die Decke, flogen umher und umtanzten die Leuchtfelder. Der Anblick war grotesk und beängstigend, als hätte sich ein Teil des virtuellen Coladschungels, der diese Woche auf den Fassaden vieler Gebäude wucherte, verselbstständigt und in dieser modernen Wohnmaschine mit den hermetisch geschlossenen Fensterflächen materialisiert.

      Sie hob den Arm, damit ihr PA die Bescherung sehen konnte.

      »Ken?«, flüsterte sie. »Was hat das zu bedeuten?«

      »Ich weiß nicht, wie die Frage gemeint ist.«

      »Woher kommen die?«

      »Es könnte sein, dass ein Flurnachbar eine Schmetterlingszucht betreibt und die Brutschränke und die Wohnungstür offen gelassen hat.«

      Sie wandte sich nach rechts zu ihrer Wohnung und achtete darauf, auf keines der Tiere zu treten. Als sie den Kirschblütenzweig neben ihrer Tür erreicht hatte, schaute sie hoch. Ihr Blick fiel auf eine besonders dicke Motte, die sich mit ihren sechs Beinen an die Wand klammerte. Ihr dicker, behaarter Leib bewegte sich sachte auf und ab, die gefiederten Antennen zitterten. Sie wirkte größer als alle anderen Motten, der Rüssel war stark ausgeprägt und glich dem Saugorgan einer Mücke, was ihr einen Anstrich von Gefährlichkeit verlieh. Als Xialong die automatisch entriegelte Tür öffnete, hob die Motte ab und schwirrte durch den Spalt, noch ehe Xialong die Wohnung betreten konnte. Sie folgte ihr rasch, damit nicht noch mehr Tiere nachkamen, und schloss die Tür hinter sich.

      Die Motte hatte sich auf den Rahmen des Bildes ihrer Mutter gesetzt, das identisch war mit dem Foto in

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