KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe

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Arbeiter trugen Fußfesseln. Bis zur Übernahme der Verwaltung durch die chinesische Regierung im Jahr 1959 hatte dort Leibeigenschaft geherrscht. Jetzt waren die Menschen angeblich frei – aber weshalb hingen sie dann an den alten Traditionen und verehrten die Mönche? Onkel Wu war kein Tibeter, sondern Chinese, doch die Bilder, die alten und die neuen, ließen ihn nicht kalt. Genau genommen wühlten sie ihn stärker auf, als in seinem Alter gut für ihn war.

      An der Tür wurde geklopft; die Klingelanlage (mit konfigurierbarem Signalton und Videomonitor) hatte von Anfang an nicht funktioniert. Onkel Wu sah auf die Zeitanzeige an der Videowand. Es war bereits halb elf, spät für seine Verhältnisse. Wer konnte das sein?

      Er schlurfte zur Tür und machte auf. Vor ihm stand eine junge Frau mit Kostümjacke und dunkelgrauem Rock, in der Hand eine Reisetasche, die ihre rechte Schulter nach unten zog. Sie lächelte verlegen.

      »Onkel Wu, darf ich eintreten?«

      Jetzt erkannte er sie wieder. Das war Xialong, das kleine Mädchen, dem er im Park Geschichten vorgelesen hatte, weil ihre Kinderfrau, eine Australierin, kein Chinesisch lesen konnte. Auch später noch, als sie nicht mehr von Privatlehrern unterrichtet wurde und die Universität besuchte, hatte sie ihn hin und wieder im Park besucht und ihm jedes Mal etwas mitgebracht: ein paar Süßigkeiten, eine Flasche Reiswein, eine gebratene Taube oder frisches Obst. Nie hatte sie ihn spüren lassen, dass sie, bewacht von Drohnen und schwer bewaffneten Sicherheitskräften, hinter dem Zaun im Kleinen Himmel lebte, wie die Leute sagten, einer streng bewachten geschlossenen Gesellschaft, die für Normalsterbliche so unzugänglich war wie dereinst der Kaiserpalast für einen Reisbauern aus der Provinz. Inzwischen wohnte sie außerhalb des Kleinen Himmels, das hatte sie ihm erzählt, und erst heute Morgen war sie auf dem Weg zur Arbeit am Park vorbeigefahren und hatte ihm zugewinkt.

      Er verbeugte sich und geleitete sie durch den Flur in sein kleines Wohnzimmer. Während sie die Tasche abstellte, sich setzte und sich das Haar aus dem Gesicht strich, schenkte er ihr Tee ein. Er nahm ihr gegenüber Platz und betrachtete ihr schönes Gesicht, das aufgerissen war wie das Papier einer Tuschezeichnung. Verzweiflung und Angst lugten durch die Risse, trotzdem sagte sie kein Wort, sondern wartete höflich, bis er, der Ältere, sie ansprach. Onkel Wu aber schwieg.

      »Das ist verboten«, sagte sie schließlich und deutete auf die Liveübertragung vom Potala-Platz in Lhasa. Eine Regierungsdrohne machte mit Fangnetzen Jagd auf die fliegende Kamera, und das Bild schwankte und ruckte, dass einem schlecht werden konnte.

      »Ja«, sagte Onkel Wu. »Die Anlage hat ein junger Freund eingerichtet, und ich weiß nicht, wie man die illegalen Kanäle löscht.«

      »Aber du könntest einen anderen Kanal einschalten.«

      »Ja, das könnte ich«, sagte Onkel Wu, doch er tat es nicht. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und lauschten der Zikade in ihrem Holzkäfig. Xialong kaute auf einem Teeblatt herum, dann begannen ihre Lippen, zu beben.

      »Meine Termine sind verschwunden«, sagte sie. »Den ganzen Tag lang war niemand für mich zu sprechen. Meine Mutter ist nicht erreichbar. Zu Hause wollte mich eine Motte töten. Dann ist die Netzverbindung meines Coms ausgefallen. Ich kann niemanden mehr erreichen. Ich kann mir nicht mal mehr ein Taxi rufen. Ich komme an kein Geld heran. Und Ken ist so dumm geworden wie ein Stück Holz.« Sie hob den Arm. Der Ärmel ihrer Kostümjacke fiel herab und gab das Drachenband an ihrem schmalen Arm frei.

      »Warum, mein Kind, gehst du nicht zur Polizei?«

      Trotz der Wärme fröstelte Xialong. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich traue mich nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre nicht gut.«

      »Ich verstehe«, sagte Onkel Wu, obwohl er nichts verstand. Er ergriff ihre Hand, zog sie sanft auf den Tisch nieder und drückte sie. »Vielleicht solltest du erst einmal schlafen. Du kannst dich hier auf das Sofa legen. Warte, ich hole dir eine warme Decke.« Er ging in die kleine Schlafkammer und holte eine Decke aus dem Schrank. Als er zurückkam, schlief Xialong bereits, ohne sich entkleidet zu haben. Nur die Kostümjacke hatte sie über die Stuhllehne gelegt.

      Besorgt und fürsorglich deckte er sie zu.

      

      4

      Früher war alles besser, dachte Kung, obwohl er erst zweiundzwanzig war. Die Hacks waren besser und die Drogen auch. Vielleicht konnte er früher auch nur mehr davon vertragen. Jetzt sah er aus wie dreißig, ach was, wie vierzig, und wenn er mal eine Nacht durchmachte, zitterten ihm morgens die Hände so sehr, dass er kaum noch eine Flasche Wasser ansetzen konnte.

      Wasser war die einzige Medizin, die ihn vom finalen Burn-out trennte. Klares, sauberes, kühles Wasser und das Sanktuar.

      Hong Gezi hatte ihn darauf gebracht. Er hatte keine Ahnung, wer hinter diesem Fakeprofil steckte, aber irgendwas in der Art, wie sie ihren jämmerlichen Zustand und die Wohltaten der Drei Wahrheiten schilderte, hatte ihn veranlasst, dem Link zu folgen. Vermutlich lag es daran, dass die Selbstbespiegelung bei Hong Gezi so lang und die vermeintliche Problemlösung so knapp ausgefallen war.

      Unbewusst setzte er »knapp« mit »effektiv« gleich.

      Der Link brachte ihn auf eine Seite mit dem Schriftzug Die Drei Wahrheiten. Kein Darknet und keine Kryptoserver nötig, keine Verschlüsselung. Das war verdächtig. Egal, dachte er. Hong Gezi hat’s auch überlebt. Er setzte das VR-Gear auf, schob die rechte Hand in einen Datenhandschuh und gelangte in ein graues Nichts, in dem sich drei beschriftete Portale abzeichneten: Vertrauen, Verehrung, Versenkung. Während er noch überlegte, ob er sich wieder ausklinken sollte, öffnete sich das Vertrauenportal, und er schwebte hindurch – in einen leeren, großen Kugelraum, dessen Innenbegrenzung aus einer durchscheinenden Schicht scrollender, einander überlagernder Worte bestand. Die Worte waren deutlich zu erkennen und bildeten Sätze, doch es waren einfach zu viele, um einen herauszugreifen. Gleichzeitig vernahm Kung einen gewaltigen Flüsterchor, eine Art kosmisches Gesäusel. Waren die Worte und das Geflüster kongruent? Er konnte es nicht sagen. Dann vernahm er eine einzelne, laute, verständliche Stimme, und sie sagte: »Wähle deinen Vertrauten.« Gesichter tauchten vor ihm auf, Männer und Frauen, Junge und Alte, und nach einer Weile, als es ihm langweilig wurde, sagte er bei einer etwa dreißigjährigen Frau mit freundlichem Blick Halt. Ihr Gesicht lächelte und bekam einen Körper. Sie verneigte sich vor ihm und sagte: »Ich heiße Mei und bin jetzt deine Vertraute. Ich bin immer für dich da.« Dann verschwand sie.

      Der zweite Raum war ein weißer Kubus von etwa fünfzig Meter Seitenlänge. Trotz seiner Größe und Leere machte er den Eindruck eines Zimmers. Genau in der Mitte befand sich ein niedriger Sockel mit einer Art Kasten darauf. Kung schwebte hinüber. Aus fünf Meter Abstand stellte er fest, dass der Kasten ein Computer war – nicht irgendein Computer, sondern sein allererster Rechner, ein schwarzer Lenovo mit transparenter Seitenwand, durch die er in das blau ausgestrahlte Innere sah. Er hatte diesen Kasten geliebt und liebte ihn immer noch, doch ehe er ihn genauer in Augenschein nehmen konnte, traten Gestalten aus den Wänden hervor, viele Männer und einige wenige Frauen, und nahmen im Halbkreis hinter seinem geliebten ersten Rechner Aufstellung, darunter Konrad Zuse, der Erbauer des ersten programmgesteuerten Rechners, Noam Chomsky, der Begründer der Chomsky-Hierarchie, Bill Gates, der Erfinder von Windows, Linus Torvalds, der Initiator von Linux, und Liu Chuanzhi, der Gründer des Lenovo-Konzerns. Einige Personen kannte er nicht, doch er spürte, sie waren erschienen, um dem Kasten auf dem Podest Respekt zu erweisen. Und der Kasten, sein geliebter erster Rechner, morphte, die Kanten rundeten sich, das Gehäuse wurde gedrungener, kraftvoller, und plötzlich zoomte sein Blick hinein, schwenkte über Mainboard und Grafikkarte, stürzte in den Prozessor und raste die Schaltungsbahnen entlang, drang

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