Richter und Henker - Roland Benito-Krimi 8. Inger Gammelgaard Madsen
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„Kvik, komm schon! Kviiik?“
Seine Stimme hatte ganz automatisch einen sanfteren Ton angenommen, beinahe entschuldigend und tröstend, vielleicht auch ein wenig ängstlich. Er wollte nicht hier drinnen sein, in diesem verlassenen Schlachthaus. Was hatte Kvik bloß hier hineingezogen? Gemischte Gefühle an eine Vergangenheit am Arbeitsmarkt, den er sowohl hasste als auch vermisste, kamen in ihm hoch. Graffitikünstler hatten sich mit bunten Farben an den weißen Fliesen ausgetobt. Vielleicht sollte das schön aussehen, er hatte jedenfalls kein Gespür dafür. Ein seltsamer Kontrast zwischen Verfall und Kunstinstallation. Immer wieder pilgerten Amateurfotografen zu diesem Gebäude, um Bilder zu schießen, wie ihm zu Ohren gekommen war; jetzt verstand er besser, warum.
Er betrat einen großen Raum. Die Schlachthalle. Er stellte sich vor, wie sie damals ausgesehen hatte: die toten Schweine, wie sie an ihren Haken hingen und die Schlachthausmitarbeiter, die fleißig mit ihren scharfen Messern zugange waren; der Geruch von Blut und rohem Fleisch, das Geräusch der Sägen; die Kollegen, die er nie mehr wiedersah. An dieser Stelle am Boden musste kürzlich ein Feuer gebrannt haben. Bestimmt ein paar Obdachlose, die sich warmhalten wollten. Die Decke war hoch. Teile des Stahlrohrsystems waren noch erhalten. Andere Streben waren heruntergebrochen oder hingen wie unbrauchbare Fallrohre von der Decke. Es könnte riskant sein, sich hier aufzuhalten, konnte doch jederzeit mehr davon herunterfallen. Er überlegte, ob er nicht doch umdrehen sollte, vielleicht war es ja gar nicht Kviks Blutspur gewesen, doch dann ließ ein lautes Hundegebell seinen angespannten Körper aufschrecken.
„Kvik, wo bist du? Komm her!“
Er pfiff.
Weiter hinten in der Halle erblickte er ihn endlich. Der Hund kläffte und sprang in die Höhe, als wolle er nach etwas schnappen, das Sigurd wegen des eingestürzten Plafonds von hier aus nicht sehen konnte. Nun erkannte Kvik auch ihn und kam ekstatisch wedelnd angelaufen. Er hatte etwas in der Schnauze. Es war ein Schuh. Ein brandneuer Sneaker in einer Herrengröße. Er nahm einen tiefen Atemzug und folgte dem Hund mit hölzernen Bewegungen.
Der Junge war bestimmt nicht älter als fünfzehn oder sechzehn. Sein Kopf hing schlaff über seiner Brust herab. Die Arme baumelten kraftlos in der Luft. Die Füße waren ein wenig unbeholfen gekrümmt, als stünde er, in Verlegenheit geraten, auf seinen Zehen. Einem der Füße fehlte ein Schuh. Mit diesem fuchtelte Kvik vor seiner Nase herum und wollte spielen, ihn auffordern, den Schuh zu werfen, damit er ihn voller Elan wieder zurückholen konnte. Wie sie es zu Hause mit dem Ball immer machten. Doch er stand wie gelähmt da und starrte den Jungen an. Seine Socke war grauschwarz gestreift, der große Zeh hatte ein Loch durch ihn gebohrt. Er wusste nicht, was er machen sollte. Es war zu spät, das Seil durchzuschneiden. Halb geschmolzener Schnee lag auf den Schultern der nassen Jacke. Er musste die ganze Nacht lang so dort gehangen haben. Der Schnee war wohl durch die eingeschlagenen Scheiben in Deckenhöhe hineingeweht worden. Das Seil hatte sich tief in die weiße Haut des Halses gebohrt. Kvik bellte erneut, sprang nach dem anderen Schuh und stieß den Toten an, sodass der Junge plötzlich aussah, als würde er sich bewegen. Sigurd befürchtete, das Seil würde sich mitten durch den dünnen Hals schneiden.
„Hör auf, Kvik! Lass das! Komm, wir gehen heim.“
Das war sein erster Einfall. Er wollte sich in nichts einmischen. In letzter Zeit hatte es mehrere Selbstmorde in der Stadt gegeben. Die Lokalzeitung schrieb von nichts anderem mehr. Selbstmord war seiner Meinung nach eine zynische und egozentrische Problemlösung und für die, die diesen Ausweg wählten, hatte er nichts übrig. Schon gar nicht für die jungen Leute, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Doch heutzutage waren sie einfach zu verwöhnt und ertrugen keine Misserfolge mehr. Aber bitte, wenn sie nicht mehr leben wollten … Er versuchte, Kviks Halsband zu schnappen, doch der Hund entwischte wieder und lief noch tiefer in das Gebäude, wo er wieder zu bellen begann. Getrieben von – er wusste nicht was – folgte er passiv dem Gebell. Schon wieder sprang Kvik in Richtung Decke. Langsam richtete Sigurd seinen Blick nach oben. Ein Tropfen Schmelzwasser traf ihn im Gesicht, doch der Anblick dessen, was er über sich sah, machte den kalten Schauder bedeutungslos. Sie hingen nebeneinander. Die Pfütze unter ihnen war bestimmt kein Schmelzwasser. Hier stank es nach Pisse. Sowohl Darm als auch Blase entleeren sich, wenn man stirbt, hatte er gehört. Kein angenehmer Gedanke. Mittendrin lag eine gestrickte Mütze. Auf dem Kopf des anderen Jungen saß eine schief über das eine Auge gerutschte Baseballmütze. Handelte es sich hierbei um Massenselbstmord? Davon hatte er schon einmal etwas gelesen, aber das war in den USA gewesen. Wie waren sie da hinaufgekommen und wie hatten sie sich von den Rohren mit den Seilen, an denen sie jetzt hingen, hinuntergestürzt? Sein Hirn versuchte eine logische Lösung für das zu finden, was er sah, doch es fiel ihm keine ein. Letztendlich war Kviks Gebell das Einzige, was er noch verstand.
Kapitel 3
Die Zuckerschale prallte mit einem lauteren Knall auf dem Tisch auf, als es Vizepolizeidirektor Kurt Olsen erwartet hätte. Vielleicht auch nur deshalb, weil es so still war. Alle betrachteten schweigend den Mann, dem er das Wort übergeben hatte, der jedoch das Talent hatte, die berühmt-berüchtigte Pause einzuhalten, die seine Zuhörer in einen Zustand stummer Erwartung versetzte. War es Neugier? Oder waren sie wie gelähmt? Erfolglos versuchte er am Ausdruck ihrer Gesichter einzuschätzen, was in ihnen vorging. Ihm selbst war nicht ganz wohl dabei, anstelle Roland Benitos einen anderen auf dessen Platz am Tischende zu sehen. Er hatte immer gehofft, Benito wäre derjenige geworden, der seinen Platz übernehmen würde, wenn er in Pension ginge, doch so war es leider nicht gekommen.
„Zuerst möchte ich mich bei Vizepolizeidirektor Kurt Olsen für den freundlichen Empfang bedanken“, eröffnete der neue Polizeikommissar Anker Dahl seine Rede lächelnd.
Er hatte sich erhoben, obwohl er eigentlich auch im Sitzen schon groß genug war. Größer als Kurt jedenfalls – Niels Nyborgs imponierende Größe von zwei Metern übertraf jedoch auch er nicht. Pat & Patachon hatte der ältere Teil des Teams Nyborg und Benito stets liebevoll genannt, wenn sie zusammen unterwegs waren. Olsen seufzte innerlich.
Anker Dahl versuchte, ihre Blicke zu aufzufangen. Manche von ihnen erwiderten den seinen neugierig, andere schauten weg oder starrten auf den Tisch.
„Mir ist natürlich bekannt, dass die Mordkommission eine beliebte, engagierte Person verloren hat, und ich werde versuchen, mich an seinem Image zu orientieren, sodass wir die Effektivität der Abteilung aufrechterhalten.“
Einige von ihnen räusperten sich, doch mehr kam nicht.
Wir. Kurt Olsen spürte, wie sich ein klammes Gefühl in ihm ausbreitete. Nicht wegen des Ruhestands – den hatte er sich vollkommen verdient –, jedoch wegen des Ausfalls aus der Gemeinschaft. Der Neue sah sich bereits als Teil davon. Und was blieb ihm selbst? Eves sonderbarer Freundeskreis? Seine 43-jährige Dienstzeit, die er nun schon bald hinter sich haben sollte, hatte ihm keine Möglichkeit gelassen, sich eigene Privatbeziehungen und Freundschaften aufzubauen oder gar ein Hobby zu finden, in das er sich hätte hineinstürzen können. Aber vielleicht würde er ja noch etwas für sich entdecken. Golf zum Beispiel. War das nicht, was alle anderen machten? Oder Angeln. Stille durchbrach Kurt Olsens Gedanken.
Anker Dahl machte erneut eine Pause, als würde er darauf warten, dass jemand etwas sagte. Doch da nun die meisten auf den Tisch oder ihre Kaffeetassen starrten, fuhr er fort.
„Nun, da das heute ja mein erster Tag hier ist, werde ich mich selbstverständlich gleich an die liegengebliebenen Dinge machen, und nach einer Runde auf dem Polizeigelände würde ich gerne mit jedem von euch einzeln sprechen, um zu hören, welche Visionen ihr für die Mordkommission habt.“
Neue