Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Roman. Heinrich Mann

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Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Roman - Heinrich Mann Reclams Universal-Bibliothek

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Nachbar sagte Prost. Es war ein älterer Bürger mit einem Bauch in einem wollenen Hemd, über dem die Weste weit offen stand. Unrat betrachtete ihn lange aus dem Winkel. Der Bürger trank und fuhr mit einer biedern Hand über den feuchten, gelblichweißen Schnurrbart. Unrat wagte es:

      »Das ist denn also nun das Fräulein Rosa Fröhlich, das uns da etwas vorsingt, nicht wahr, guter Mann?«

      Aber es erhob sich grade Beifall, weil die Sängerin ein Stück beendet hatte. Unrat mußte warten und dann noch einmal fragen.

      [57]»Fröhlich?« meinte der Bürger. »Jä, wo soll ich das woll herwissen, Herr, wie die Deerns alle heißen. Hier is jä alle Naslang ’n niegen Juchheh.«

      Unrat wollte tadelnd sagen, es stehe draußen angeschrieben; – aber da begann wieder das Klavier, etwas weniger laut, und er konnte verstehn: ein paar Worte, bei denen die bunte Frauensperson ihren Kleiderrock aufhob und ihn verschmitzt und schämig gegen ihre Wange drückte.

      »Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldiesch bien.«

      Unrat erkannte dies als Blödsinn und hielt es zusammen mit der stumpfen Antwort, die sein Nachbar ihm erteilt hatte. Es bildete sich in ihm Unmut: das Gefühl, verschlagen zu sein in eine Welt, die die Verneinung seiner selbst war, und ein Abscheu, der aus seinem Innersten kam, vor Menschen, die nichts Gedrucktes vor die Augen nahmen, die in einem Konzert saßen und nicht das Programm gelesen hatten! Es nagte an ihm, daß hier mehrere hundert Personen beisammen sein konnten, die nicht »aufmerkten«, nicht »klar dachten«, sich vielmehr berauschten und ohne Scham noch Furcht sich den müßigsten »Nebendingen« hingaben. Er tat einen heftigen Zug aus seinem Glase. »Wenn die wüßten, wer ich bin«, dachte er darauf, indeß sein Selbstgefühl sich des Widerhaarigen entkleidete, milde und wohlig ward und ein wenig verschwommen – angeblasen von warmen menschlichen Ausdünstungen, dieser Dampfheizung mit Blut. Die Welt zog sich in dichteren Qualm zurück, voll ungewisserer Gebärden … Er fuhr sich über die Stirn; es schien ihm, die Frauensperson dort oben habe schon mehrmals gesungen, sie sei »klain uhnd uhnschuhldiesch«; nun war sie auch damit fertig, und der Saal klatschte, brüllte, jauchzte und trampelte. Unrat schlug [58]plötzlich mehrmals die Hände zusammen, dicht unter seinen Augen, die es mit Staunen ansahen. Es befiel ihn eine große, unbedachte, nur schwer zu bändigende Lust, seine beiden Füße gleichzeitig gegen den Boden zu stoßen. Er war stark genug, es nicht zu tun. Aber die Versuchung erzürnte ihn auch nicht. Er lächelte heiter versonnen vor sich hin und stellte fest, das sei – demnach denn wohl – der Mensch. »Immer mal wieder – Gras fressen«, setzte er hinzu. »Ei freilich.«

      Die Sängerin kam herab in den Saal. Neben dem Podium ging eine Tür auf. Unrat nahm plötzlich wahr, daß jemand von dort ihn ansehe. Ein einziger Mensch hatte sein Gesicht ihm zugekehrt; und dieser Mensch stand aufrecht und lachte; und es war – sicherlich doch – es war niemand anders als der Schüler Kieselack!

      Kaum stand dies fest, da fuhr Unrat in die Höhe. Er hatte die Empfindung, sich einen Augenblick vergessen zu haben, – und sofort benutzten die Schüler das zu Unfug. Er schob die Schultern zweier Soldaten auseinander, zwängte sich hindurch, brach weiter vor. Mehrere Arbeiter widersetzten sich ihm, einer schlug ihm ohne weiteres den Hut vom Kopf. Er setzte ihn sich wieder auf, arg beschmutzt; man rief:

      »Hannes, wat ’n Hoot.«

      Kieselack dort hinten lachte und fiel dabei mit dem Oberkörper nach vorn, so sehr erschütterte ihn seine Heiterkeit. Unrat machte noch einen Vorstoß; er klappte mit den Kiefern in überhandnehmender Bedrängnis. Aber er ward von hinten festgehalten. Er hatte einem Matrosen den Grog umgeworfen, er sollte ihn bezahlen. Dies war geschehen. Nun hatte er vor sich einige freie Schritte liegen. Er [59]stürmte; und hielt seine Augen, verängstet durch das Übermaß der Verworfenheit, die sich hier kundgab, immer auf Kieselack, der lachte; – da prallte er gegen etwas Weiches, und eine große, sehr dicke und unter einem braunen Abendmantel, der sich geöffnet hatte, nur ungenügend bekleidete Frau drehte ihm ein zorniges Gesicht zu. Ein Mann, nicht weniger üppig und bei sorgfältiger Frisur auch nur in Trikot mit einer alten Jacke darüber, kam herzu und schimpfte mit. Unrat hatte gegen den Sammelteller der Frau gestoßen, es waren Geldstücke fortgesprungen. Man suchte, auch Unrat bückte sich, verstört, planlos. Neben seinem Kopf, der sich den Boden entlang bewegte, scharrten die Leute mit den Füßen; Anklagen, höhnische Reden, Verwünschungen, dreiste Hände sogar drangen auf ihn ein. Unrat richtete sich auf, gerötet, mit einem Zweipfennigstück zwischen den Fingern. Er atmete kurz, tastete mit blindem Blick auf vielen Mienen umher, die ihm feind waren. Er spürte, heute zum zweitenmal, den Krisenwind des Aufruhrs im Gesicht. Er fing an, eckige Stöße zu machen, nach allen Seiten, wie gegen zahllose Anstürmende. In diesem Augenblick sah er Kieselack mit den Armen über dem hohen Kasten des Klaviers liegen, zuckend am ganzen Körper. Und jetzt hörte er ihn sogar lachen. Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles verloren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen. Er schrie, und seine Stimme schwoll an im Grabe:

      »Ins Kabuff! Ins Kabuff!«

      Kieselack, der ihn schon nahe sah, gehorchte. Er verschwand in der Tür, die sich neben dem Podium aufgetan hatte. Ehe Unrat es sich versah, stand auch er drinnen. Er [60]erblickte eine rote Gardine und hinter ihr hervorragend einen Arm. Er wollte darauf zu; da geschah ein Sprung. Wie er hinausspähte, lief Kieselack im kurzen Trab über die Diele. Vorne im Torgang sah Unrat einen zweiten verschwinden; er hatte ihn grade noch erkannt: Graf Ertzum. Unrat stieß sich mit den Zehen vom Boden ab; aber das Fenster war zu hoch. Er versuchte sich hinaufzustemmen. Während er mit gespitzten Ellenbogen schwebte, vernahm er in seinem Rücken eine hohe Stimme:

      »Nur Mut, Sie sind ja sonst ’n kräftiger junger Mensch!«

      Er plumpste herab, wandte sich um: – da stand die bunte Frauensperson.

      Unrat betrachtete sie eine Weile; seine Kiefern bewegten sich lautlos. Schließlich brachte er hervor:

      »Sind Sie – demnach denn also – die Künstlerin Fröhlich?«

      »Na ja«, sagte die Frauensperson.

      Unrat hatte es gewußt.

      »Und Sie führen Ihre Künste in diesem Gasthause vor?«

      Auch dies wollte er noch von ihr selbst bestätigt hören.

      »Originelle Frage«, bemerkte sie.

      »Drum denn –«

      Unrat schöpfte Luft; er wies hinter sich, nach dem Fenster, durch das Kieselack und von Ertzum entkommen waren.

      »Sagen Sie mir – nun aber auch: dürfen Sie denn das?«

      »Was’chen?« fragte sie erstaunt.

      »Das sind Schüler«, sagte Unrat; und nochmals, mit Beben, tief aus der Brust:

      »Das sind Schüler.«

      »Meinswegen. Ich hab’ ja nischt davon.«

      [61]Sie lachte. Unrat brach schrecklich aus:

      »Und die machen Sie der Schule und der Pflicht abspenstig! Die verführen Sie!«

      Die Künstlerin Fröhlich hörte auf zu lachen; sie richtete den Zeigefinger gegen ihre Brust.

      »Ich? Also Ihnen fehlt woll was?«

      »Oder wollen Sie etwa leugnen?« fragte Unrat kampffertig.

      »Vor

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