Freud und das Vermächtnis des Moses. Richard J. Bernstein

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Freud und das Vermächtnis des Moses - Richard J. Bernstein страница 4

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Freud und das Vermächtnis des Moses - Richard J. Bernstein

Скачать книгу

Versuch über Freud, Die Interpretation, hat Paul Ricœur seine – inzwischen gebildetes Allgemeinwissen gewordene – Unterscheidung zwischen den zwei einander entgegengesetzten Formen der Hermeneutik eingeführt. Er unterscheidet eine reduktive und entmystifizierende Hermeneutik, eine Interpretation als „Übung des Zweifels“ und eine nicht-reduktive und restaurative Hermeneutik, eine Interpretation als „Sammlung des Sinns“.8 Mit Blick auf diese beiden Arten der Interpretation hat man in der Regel (besonders im Zusammenhang von Freuds Moses) der Hermeneutik des Zweifels den Vorzug gegeben. Zwischen den beiden entgegengesetzten Weisen besteht aber eine komplexe dialektische Beziehung – ein Punkt, auf den, was leider meist übersehen wurde, Ricœur stets selbst hingewiesen hat: Beide Seiten setzen sich wechselseitig voraus. Denn der Prozeß der Entmystifizierung kommt gar nicht erst in Gang, bevor wir nicht sorgfältig den manifesten Textsinn erfaßt haben. Dieser Vorgang ist die Voraussetzung für die Aufdeckung und Entmystifizierung des Textes. Es gibt in Freuds Argumentation zahlreiche Stellen, an denen eine ernste, mitunter vernichtende, Kritik einhaken muß – und ich werde nicht zögern, solche Stellen aufzuzeigen. Aber der grundlegende Standpunkt, den ich in dieser Studie einnehme, ist der hermeneutische Grundsatz, der besagt, man müsse stets den jeweils stärksten Punkt der Argumentation hervorheben. Ich tue dies nicht aus Einverständnis mit Freud oder weil ich seine Charakteristik des Wesens der jüdischen Religion im ganzen überzeugend fände, sondern weil die Kraft und die Reichweite der Freudschen Theorie über Religion, Tradition, die jüdische Religion und ihr Überleben bislang nicht ausreichend dargelegt und aufgearbeitet worden ist.

      Die Erzählhandlung

      Yerushalmi hat in seiner Studie Freuds Moses ein brillant formuliertes Résumé der Erzählhandlung des Freudschen Buches gegeben. Zur Orientierung meines eigenen Ansatzes sei diese Zusammenfassung hier zunächst wiedergegeben:

      „Der Monotheismus, sagt Freud, ist nicht jüdischer Herkunft, sondern eine ägyptische Entdeckung. Der Pharao Amenhotep IV erhob ihn zur Staatsreligion, und zwar in Form einer ausschließlichen Anbetung der Sonnenmacht, Aton, und nannte sich hinfort Ikhnaton [bzw. Echnaton]. Charakteristisch für die Aton-Religion war nach Freud der bedingungslose Glaube an einen einzigen Gott, die Ablehnung von Anthropomorphismus, Magie und Zauberei und die absolute Leugnung eines Lebens nach dem Tode. Nach Ikhnatons Tod jedoch wurde seine große Häresie schleunigst aufgehoben, und die Ägypter kehrten zu ihren alten Göttern zurück. Moses war kein Hebräer, sondern ein ägyptischer Priester oder Adeliger und leidenschaftlicher Monotheist. Um die Aton-Religion vor dem Untergang zu bewahren, stellte er sich an die Spitze eines unterdrückten semitischen Stammes, der damals in Ägypten lebte, führte diesen aus der Sklaverei und schuf ein neues Volk. Diesem gab er eine noch vergeistigtere, bildlose Form der monotheistischen Religion. Außerdem führte Moses, um sein Volk von anderen zu unterscheiden, den ägyptischen Brauch der Beschneidung ein. Doch die stumpfe Masse ehemaliger Sklaven war den hohen Anforderungen des neuen Glaubens nicht gewachsen. Der Mob revoltierte, brachte Moses um und verdrängte die Erinnerung an diesen Mord. Danach schmiedeten die Israeliten ein Kompromißbündnis mit verwandten semitischen Stämmen im Midian, deren wilde vulkanische Gottheit namens Jahve jetzt der Gott ihres Volkes wurde. Schließlich verschmolz der Gott Moses’ mit Jahve, und die Taten Moses’ wurden einem midianitischen Priester zugeschrieben, der ebenfalls Moses hieß. Im Lauf der Jahrhunderte jedoch erlangte die unterschwellige Tradition des wahren Glaubens und ihres Gründers genügend Kraft, um siegreich emporzusteigen. Von da an wurden Jahve die universellen und spirituellen Eigenschaften des Gottes Moses’ zugeschrieben, obwohl die Erinnerung an Moses’ Ermordung bei den Juden verdrängt blieb und erst mit dem Aufkommen des Christentums in verkappter Form wiederauftauchte.“9

      Auf den ersten (und durchaus auch noch auf den zweiten oder dritten) Blick erscheint diese Erzählung als zu phantastisch, als daß man sie im Ernst für eine historische Darstellung halten könnte. Man glaubt, ein Produkt reiner Phantasie und Einbildungskraft vor sich zu haben, das jeder Fundierung durch historische Tatsachen entbehrt. Und man fragt sich ernsthaft, ob das Interessante an diesem Konstrukt vielleicht einzig und allein die Frage ist, was Freud dazu bewegt haben mochte, eine solch schockierende Geschichte zu erfinden und mit ihr seine – von Nazi-Deutschland bedrohten und verfolgten – jüdischen Mitbürger vor den Kopf zu stoßen.

      Wenn auch das aus Yerushalmis Buch Zitierte zweifellos den reinen Handlungsinhalt der Geschichte wiedergibt, die Freud erzählt, so ist es dennoch nicht die Art und Weise, in der er sie erzählt. Wir haben aber genau zu verfolgen, wie und in welchem Kontext Freud die Geschichte erzählt. Zumal die ersten beiden Abhandlungen, die Freuds Buch versammelt, „Moses, ein Ägypter“ und „Wenn Moses ein Ägypter war…“, ursprünglich in der psychoanalytischen Zeitschrift Imago erschienen – zu einem Zeitpunkt, als Freud noch in Wien lebte. Die dritte, längste und wichtigste Abhandlung „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“, wurde erst nach Freuds Ankunft in England veröffentlicht.

      Die These: Moses war ein Ägypter

      „Moses, ein Ägypter“, diese kurze und nüchterne Abhandlung (acht Druckseiten in der Erstausgabe) konzentriert sich ganz auf die Frage nach der ägyptischen Herkunft Moses’. Hier ist das Problem des Monotheismus noch nicht thematisch, wenngleich Freud sagt, der Mann Moses sei „dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter“10 gewesen. Um seine These zu untermauern, zitiert Freud zunächst jene Autoritäten (in erster Linie James H. Breasted), für die an dem ägyptischen Ursprung des Namens „Moses“ kein Zweifel besteht. Zum Problem der Etymologie des Namens bemerkt Freud: „Nun sollte man erwarten, daß irgendeiner der vielen, die den Namen Moses als ägyptisch erkannt haben, auch den Schluß gezogen oder wenigstens die Möglichkeit erwogen hätte, daß der Träger des ägyptischen Namens selbst ein Ägypter gewesen sei.“11 Dieser Hinweis ist allerdings zu dürftig, als daß er eine schwerwiegende historische These zu stützen vermöchte, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß die Juden während ihrer wechselvollen Geschichte immer wieder Namen angenommen haben, die jeweils den Regionen entstammten, in denen sie lebten. Hinzu kommt: Es ist die ägyptische Prinzessin, die, der biblischen Erzählung zufolge (und die ist nun einmal Primärquelle unseres Wissens über Moses), den Säugling findet und aufzieht. Es ist also nur logisch, daß ein Kind am ägyptischen Königshof einen ägyptischen Namen bekommen würde. Es stellt sich also die Frage, ob Freud tatsächlich neue Argumente für seine kontroverse These zu bieten hat. Er jedenfalls ist sich dessen sicher, schränkt aber zuvor ein, daß sein Beitrag „eine Anwendung der Psychoanalyse zum Inhalt“ habe und das aufgrund dieser Anwendung entwickelte „Argument […] gewiß nur auf jene Minderheit von Lesern Eindruck machen [wird], die mit analytischem Denken vertraut ist und dessen Ergebnisse zu schätzen weiß.“12

      Freud eröffnet seine Diskussion mit einem Rekurs auf Otto Ranks 1909 veröffentlichtes Buch Der Mythus von der Geburt der Helden, von dem Freud sagt, es sei „damals noch unter meinem Einfluß, auf meine Anregung“13 hin entstanden. Rank lenke unsere Aufmerksamkeit auf die „verblüffende Ähnlichkeit“14 in der Erzählstruktur der Sagen und Dichtungen, denen eine Glorifizierung der Geburt der jeweiligen Volkshelden, Religionsstifter, Herrscherdynastien und des Ursprungs der Weltreiche und -städte gemein sei. Ranks Untersuchungen, so Freud, führen uns die Quelle und Absicht dieser Mythen vor Augen. „Ein Held ist, wer sich mutig gegen seinen Vater erhoben und ihn am Ende siegreich überwunden hat.“15 Aus dieser verallgemeinerten Struktur der Sagen isoliert Freud eine bestimmte Anzahl wiederkehrender Wesenszüge: Die Herkunft des Helden, der als ein Kind aus aristokratischer Familie vorgestellt wird; die Schwierigkeiten, die seiner Geburt vorausgingen; die Verstoßung, Aussetzung oder Tötung des (männlichen) Kindes durch den Vater; die Rettung des Kindes durch Tiere oder einfache Leute; die Abenteuer des heranwachsenden Kindes; die Erkenntnis über seine wahre Herkunft und die Identität der leiblichen Eltern; die Rache, die es an dem Vater nimmt; und zuletzt sein Aufstieg zu Ruhm und Größe. Aus psychoanalytischer Sicht weisen solche Sagen

Скачать книгу