Freud und das Vermächtnis des Moses. Richard J. Bernstein
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In seiner Zusammenfassung der Erzählhandlung schreibt Yerushalmi, daß Moses den Semiten „eine noch vergeistigtere, bildlose Form der monotheistischen Religion [gab]. Außerdem führte Moses, um sein Volk von anderen zu unterscheiden, den ägyptischen Brauch der Beschneidung ein.“42 Dieser eher flüchtige Verweis auf den ägyptischen Brauch der Beschneidung wird aber kaum der zentralen Funktion gerecht, die er in dem Aufsatz „Wenn Moses ein Ägypter war…“ einnimmt. Aufgrund seiner Beweiskraft wertet Freud den Beschneidungsritus als ein „Leitfossil“, das „uns wiederholt […] die wichtigsten Dienste geleistet hat“43. Führt man sich die psychoanalytische(n) Interpretation(en) der Beschneidung und die Nähe des Beschneidungsvorgangs zur Kastration vor Augen – wie dies die meisten der Leser des Freudschen Aufsatzes getan haben dürften –, so wird man vermuten, hier endlich den Auftakt zu einer psychoanalytischen Deutung der historischen Rekonstruktion vor sich zu haben. Doch wir werden abermals enttäuscht. Von Kastration ist in Freuds Abhandlung nirgendwo die Rede. Freud beschränkt sich ganz auf die bewußten Gründe, die Moses dazu bewegten, den „rückständigen“ Semiten einen Beschneidungsritus zu geben. Beschneidung, so Freud, war allgemein als ägyptische Sitte bekannt. Um sicher zu gehen, daß die auserwählten Semiten sich den Ägyptern nicht unterlegen fühlen würden, führte Moses den Beschneidungsritus ein.
„Man weiß, in welcher Weise sich die Menschen, Völker wie Einzelne, zu diesem uralten, kaum mehr verstandenen Brauch verhalten. Denjenigen, die ihn nicht üben, erscheint er sehr befremdlich, und sie grausen sich ein wenig davor – die anderen aber, die die Beschneidung angenommen haben, sind stolz darauf. Sie fühlen sich durch sie erhöht, wie geadelt, und schauen verächtlich auf die anderen herab, die ihnen als unrein gelten. […] Es ist glaublich, daß Moses, der als Ägypter selbst beschnitten war, diese Einstellung teilte. Die Juden, mit denen er das Vaterland verließ, sollten ihm ein besserer Ersatz für die Ägypter sein, die er im Lande zurückließ. Auf keinen Fall durften sie hinter diesen zurückstehen. Ein ‚geheiligtes Volk‘ wollte er aus ihnen machen, wie noch ausdrücklich im biblischen Text gesagt wird, und als Zeichen solcher Weihe führte er auch bei ihnen die Sitte ein, die sie den Ägyptern mindestens gleichstellte. Auch konnte es ihm nur willkommen sein, wenn sie durch ein solches Zeichen isoliert und von der Vermischung mit den Fremdvölkern abgehalten wurden, zu denen ihre Wanderung sie führen sollte, ähnlich wie die Ägypter selbst sich von allen Fremden abgesondert hatten.“44
In diesem Fall zieht Freud den biblischen Text zur Untermauerung seiner Hypothese über die Einführung der Beschneidung heran. Denn er interpretiert auf diese Weise den Satz aus Exodus 19:6, der von den Israeliten als einem „heiligen Volk“ spricht. Wenn Freud so argumentiert, muß er sich allerdings fragen lassen, wie es dann um die traditionelle Interpretation der Beschneidung als einem Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham, dem gleichsam fleischgewordenen Siegel des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk, steht. Diese traditionelle Deutung blendet Freud systematisch aus.
„Moses hat den Juden nicht nur eine neue Religion gegeben; man kann auch mit gleicher Bestimmtheit behaupten, daß er die Sitte der Beschneidung bei ihnen eingeführt hat. Diese Tatsache hat eine entscheidende Bedeutung für unser Problem und ist kaum je gewürdigt worden. Der biblische Bericht widerspricht ihr zwar mehrfach, er führt einerseits die Beschneidung in die Urväterzeit zurück als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham, andererseits erzählt er an einer ganz besonders dunklen Stelle, daß Gott Moses zürnte, weil er den geheiligten Gebrauch vernachlässigt hatte, daß er ihn darum töten wollte und das Moses’ Ehefrau, eine Midianiterin, den bedrohten Mann durch rasche Ausführung der Operation vor Gottes Zorn rettete. Aber dies sind Entstellungen, die uns nicht irremachen dürfen; wir werden später Einsicht in ihre Motive gewinnen. Es bleibt bestehen, daß es auf die Frage, woher die Sitte der Beschneidung zu den Juden kam, nur eine Antwort gibt: aus Ägypten.“45
Freuds vielleicht originellste Einsicht in die Problematik besteht aber in dem Kunstgriff, in der Analyse der Eigenart der Beschneidungssitte einen weiteren Beweis der ägyptischen Herkunft Moses’ zu liefern. Freuds Argument:
„Herodot, der ‚Vater der Geschichte‘ teilt uns mit, daß die Sitte der Beschneidung in Ägypten seit langen Zeiten heimisch war, und seine Angaben sind durch die Befunde an Mumien, ja durch Darstellungen an den Wänden von Gräbern bestätigt worden. Kein anderes Volk des östlichen Mittelmeeres hat, soviel wir wissen, diese Sitte geübt; von den Semiten, Babyloniern, Sumerern ist es sicher anzunehmen, daß sie unbeschnitten waren. Von den Einwohnern Kanaans sagt es die biblische Geschichte selbst; es ist die Voraussetzung für den Ausgang des Abenteuers der Tochter Jakobs mit dem Prinzen von Sichem. Die Möglichkeit, daß die in Ägypten weilenden Juden die Sitte der Beschneidung auf anderem Wege angenommen haben als im Zusammenhange mit der Religionsstiftung Moses’, dürfen wir als völlig haltlos abweisen. Nun halten wir fest, daß die Beschneidung als allgemeine Volkssitte in Ägypten geübt wurde, und nehmen für einen Augenblick die gebräuchliche Annahme hinzu, daß Moses ein Jude war, der seine Volksgenossen vom ägyptischen Frondienst befreien, sie zur Entwicklung einer selbständigen und selbstbewußten nationalen Existenz außer Landes führen wollte – wie es ja wirklich geschah –, welchen Sinn konnte es haben, daß er ihnen zur gleichen Zeit eine beschwerliche Sitte aufdrängte, die sie gewissermaßen selbst zu Ägyptern machte, die ihre Erinnerung an Ägypten immer wachhalten mußte, während sein Streben doch nur aufs Gegenteil gerichtet sein konnte, daß sein Volke sich dem Lande der Knechtschaft entfremden und die Sehnsucht nach den ‚Fleischtöpfen Ägyptens‘ überwinden sollte? Nein, die Tatsache, von der wir ausgingen, und die Annahme, die wir an sie anfügten, sind so unvereinbar miteinander, daß man den Mut zu einer Schlußfolge findet: Wenn Moses den Juden nicht nur eine neue Religion, sondern auch das Gebot der Beschneidung gab, so war er kein Jude, sondern ein Ägypter, und dann war die mosaische Religion wahrscheinlich eine ägyptische, und zwar wegen des Gegensatzes zur Volksreligion die Religion des Aton, mit der die spätere jüdische Religion auch in einigen bemerkenswerten Punkten übereinstimmt.“46
Wir mögen ein Unbehagen an der laxen Art und Weise spüren, mit der Freud sich der hebräischen Bibel dort bedient, wo sie seine Argumentation stützt, aber als störend beiseite schiebt, wo sie seine Annahmen durchkreuzt. Und in der Tat setzt sich Freud ernsthaften methodologischen Einwänden aus, wenn er, nicht ohne Selbstbewußtsein, behauptet: „Den biblischen Bericht über Moses und den Auszug kann kein Historiker für anderes halten als für fromme Dichtung, die eine entlegene Tradition im Dienste ihrer eigenen Tendenzen umgearbeitet hat.“47 Freud legt die Kriterien für seinen selektiven Blick auf die biblische Erzählung und die Auswahl der Stellen, die er als Zeugen der historischen Wahrheit erachtet, und solcher, die er für Entstellungen hält, nirgendwo wirklich offen. Man kann sich daher auch des Eindrucks nicht erwehren, Freud habe, überzeugt von der Richtigkeit seiner Deutung, die Bibel noch einmal selektiv auf die Passagen durchgesehen, die seinen Ansatz stützen. Mehrfach behauptet er in der zweiten Abhandlung, daß der fromme Schriftsteller in seiner Überlieferung und Redaktionierung der biblischen Erzählung „eigenen Tendenzen“ folge. Daß er selbst sich diesem Verdacht aussetzt, scheint Freud, seiner Pose des interesselosen, allein die historischen Fakten ermittelnden Historikers zum Trotz, offenbar nicht einzuleuchten.
Ich glaube, wir können nicht rechtfertigen, aber doch verstehen, warum Freud auf diese Weise vorgeht. Nehmen wir an, Freud hätte Recht mit seinen Vermutungen über den Auszug der Juden aus Ägypten und auch über das Schicksal Moses’. Sollten die Semiten ihn tatsächlich ermordet haben, so macht es ja durchaus Sinn, daß die Schriftsteller, die den Pentateuch-Text niederschrieben und redaktionierten, dies haben verschweigen wollen. Sie hätten entsprechend versucht, alle Spuren der Tat in der biblischen Erzählung zu verwischen.48 Uns leuchtet demnach auch der Sinn von Freuds berühmter Analogie zwischen Mord und Textentstellung ein:
„Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Worte ‚Entstellung‘