Freud und das Vermächtnis des Moses. Richard J. Bernstein
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„Wenn wir mit der biblischen Tradition so selbstherrlich und willkürlich verfahren, sie zur Bestätigung heranziehen, wo sie uns taugt, und sie unbedenklich verwerfen, wo sie uns widerspricht, so wissen wir sehr wohl, daß wir uns dadurch ernster methodischer Kritik aussetzen und die Beweiskraft unserer Ausführungen abschwächen. Aber es ist die einzige Art, wie man ein Material behandeln kann, von dem man mit Bestimmtheit weiß, daß seine Zuverlässigkeit durch den Einfluß entstellender Tendenzen schwer geschädigt worden ist. Eine gewisse Rechtfertigung hofft man später zu erwerben, wenn man jenen geheimen Motiven auf die Spur kommt. Sicherheit ist ja überhaupt nicht zu erreichen, und übrigens dürfen wir sagen, daß alle anderen Autoren ebenso verfahren sind.“30
Ein Hinweis auf die Frage, warum Freud – der in der ersten Abhandlung noch behauptet, sein Beitrag sei allein eine „Anwendung der Psychoanalyse“ – nun den psychoanalytischen Ansatz beiseite schiebt und seine zweite Abhandlung in den Mantel einer historischen Studie hüllt, deren Ziel die Aufhellung einer Begebenheit des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts ist, finden wir indessen nur im Rückgang auf die erste Abhandlung. Freuds wichtigstes Argument zur Begründung seiner These beruhte zunächst auf seiner psychoanalytischen Interpretation des Mythos von der Verstoßung des Volkshelden. Freud glaubt Fragmente dieses Mythos in den Sagen über Sargon von Akkad, Moses, Cyrus, Romulus, Ödipus, Karna, Paris, Telephos, Perseus, Herakles, Gilgamesch, Amphion und Zethos wiederzuerkennen. Man beachte, daß diese Liste in erster Linie mythologische Figuren anführt. Für Freud aber ist der Ägypter Moses eine Figur der Geschichte, eine reale Person, die in einer näher zu bestimmenden historischen Epoche lebte; eine Person, die den Monotheismus von dem ägyptischen Pharao Echnaton übernahm und die, um die Aton-Religion zu bewahren, sie den in Ägypten lebenden Semiten aufzwang. Ohne eine Konstruktion dieser „historischen“ Fakten hätte Freud aber wiederum keinerlei Basis für die psychoanalytische Interpretation, die er dann zur Erklärung dieser „Fakten“ anbietet.
Blickt man auf den letzten Absatz von „Moses, ein Ägypter“ zurück, so wird man sehen, daß Freud die Notwendigkeit einer solchen historischen Evidenz bereits angedeutet hatte:
„Wenn man das Ägyptertum Moses’ als den einen historischen Anhalt gelten läßt, so bedarf man zum mindesten noch eines zweiten festen Punktes, um die Fülle der auftauchenden Möglichkeiten gegen die Kritik zu schützen, sie seien Erzeugnis der Phantasie und zu weit von der Wirklichkeit entfernt.“31
Auch zu Beginn der Abhandlung diskutiert Freud bereits die Berücksichtigung der grundlegenden „historischen“ Fakten über Moses:
„Man behauptet mit gutem Recht, daß die spätere Geschichte des Volkes Israel unverständlich wäre, wenn man diese Voraussetzung [also daß Moses tatsächlich gelebt und der Auszug aus Ägypten tatsächlich stattgefunden habe] nicht zugeben würde.“32
Obwohl also Freud wiederholt bekräftigt, wir hätten keine sicheren Beweise für den Exodus und die tatsächlichen Begebenheiten in Ägypten, scheint er doch keinerlei ernste Zweifel daran zu haben, daß sie tatsächlich stattfanden. Hier gerät Freuds Konstruktion auf dem Weg von den Voraussetzungen zu den Schlüssen, die er zieht, auf eine schiefe Bahn. Dazu zählt auch der letzte Satz der ersten Abhandlung, in dem Freud nicht mehr von seiner „Annahme“ oder „Vermutung“ spricht, sondern von der „Einsicht, daß Moses ein Ägypter war“33. Im ersten Absatz der zweiten Abhandlung nun, in dem Freud sein „neues Material“34 für die These vom „Ägyptertum Moses’“ noch einmal rekapituliert, sagt er: „ich habe hinzugefügt, daß die Deutung des an Moses geknüpften Aussetzungsmythus zum Schluß nötige, er sei ein Ägypter gewesen, den das Bedürfnis eines Volkes zum Juden machen wollte.“35
Je genauer man die Details der Freudschen Erzählung studiert, desto abenteuerlicher scheint sie zu werden. Wir finden alle möglichen Formen argumentativer Lücken, Sprünge, wir finden zweifelhafte Voraussetzungen und kühne Spekulationen. Ein Beispiel: Dem biblischen Text ist sehr wenig über die Herkunft der Leviten zu entnehmen, wenngleich sie eine wichtige Rolle in der Exodus-Geschichte (und für die jüdische Geschichte im ganzen) spielen. Freud erkennt deshalb an, daß „zu den größten Rätseln der jüdischen Vorzeit […] die Herkunft der Leviten“, eines jener „zwölf Stämme Israels“, gehöre.36 Freud glaubt jedoch, dieses Rätsel lösen zu können. Er schlägt vor:
„Es ist nicht glaubhaft, daß ein großer Herr wie der Ägypter Moses sich unbegleitet zu dem ihm fremden Volk begab. Er brachte gewiß sein Gefolge mit, seine nächsten Anhänger, seine Schreiber, sein Gesinde. Das waren ursprünglich die Leviten. Die Behauptung der Tradition, Moses war ein Levit, scheint eine durchsichtige Entstellung des Sachverhalts: Die Leviten waren die Leute des Moses. Diese Lösung wird durch die […] Tatsache gestützt, daß einzig unter den Leviten später noch ägyptische Namen auftauchen.“37
Wenn es also im Buch Exodus heißt, Moses sei vom Sinai herabgestiegen und habe sein Volk das Goldene Kalb anbeten sehen, woraufhin die Söhne Levi, auf Moses’ Geheiß, „dreitausend Männer“ erschlugen, dann sollen diese Söhne Levi also in Wirklichkeit Moses’ ägyptische Entourage gewesen sein! (Und dies, obwohl – Freuds historischer Rekonstruktion zufolge – Moses niemals am Sinai gewesen sei und auch Aaron nie gelebt habe.)
Legt man Freuds Behauptung, in Wirklichkeit habe der ägyptische Moses seinen Monotheismus den etwas einfältigen Semiten aufgezwungen, zugrunde, so muß man sich allerdings fragen, was von Freuds Verweis auf die biblischen Patriarchen: Abraham, Isaak und Jakob zu halten ist. Werfen wir einen Blick auf seine verschlungenen Erklärungen:
Kadesch, die Wüstenoase, soll der Ort gewesen sein, an dem die Semiten, nach Ermordung ihres ägyptischen Anführers Moses, sich mit Stämmen vereinigten, die einem anderen Gott, dem midianitischen Jahve huldigten: „ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutrünstig“38. Es war nun notwendig geworden, diesen Gott zu glorifizieren, einen Kompromiß herbeizuführen, um Jahve – jenen grimmigen, dämonischen Gott – dem monotheistischen Gott, den die Ägypter anbeteten, „anzupassen“. Also wurden, in der Absicht, einen solchen Kompromiß zu finden, „die Sagen von den Urvätern des Volkes, Abraham, Isaak und Jakob, herangezogen. Jahve versichert, daß er schon der Gott der Väter gewesen sei; freilich, muß er selbst zugestehen, hätten sie ihn nicht unter diesem Namen verehrt.“39 Dies folgte der „neuen Tendenz“ der Verehrung und Vermischung des vulkanischen Gottes, Jahve, mit dem monotheistischen Gott des Ägypters Moses.
Wir verstehen jetzt besser den Sinn der Bemerkung, die Freud ganz zu Beginn seiner ersten Abhandlung hervorgehoben hatte: „Der Mann Moses, der dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter war, gehört so entlegenen Zeiten an, daß man die Vorfrage nicht umgehen kann, ob er eine historische Persönlichkeit oder eine Schöpfung der Sage ist.“40 Es ist nicht Gott oder etwa Abraham, Isaak oder Jakob, der die Religion des jüdischen Volkes stiftete. Es ist der Mann Moses, der sie begründete. Es ist kein Gott (weder der monotheistische Gott des Moses noch der dämonische Gott der Midianiten, Jahve), der das jüdische Volk erwählte. Es ist Moses, der die Juden auserwählte, die Anhänger des monotheistischen Gottes Aton zu werden. „Moses hatte sich zu den Juden herabgelassen, sie zu seinem Volk gemacht; sie waren sein ‚auserwähltes